Dienstag, 27. Mai 2008

Good bye „Old Germany“?

27. Mai 2008

Kazue Haga & Jochen Röpke

Vor einigen Tagen sorgte eine Veröffentlichung der Beratungsunternehmens McKinsey kurzfristig für Schlagzeilen.[1] Die Autoren eines Kurzexposes (die ausführliche Studie liegt uns nicht vor) schreiben: Wenn Deutschlang so weiter macht wie bisher („Basisszenario“), gibt es Ärger mit der Wachstumsrate und mit dem Wohlstand. Die „Mittelklasse“ drohe gar der Weg in die Armut. Die Argumente von McKinsey sind im Tagesgeschäft von Medien und Politik weitgehend untergegangen. Wir gehen ihnen an anderer Stelle ausführlich nach.[2] Dieser Blog hat daher nur Hinweischarakter. Parallel zu den Grundfragen von McKinsey, die einen „Paradigmenwechsel“ hin zu „Wachstum durch Innovation“ („Chancenszenario“) anmahnen (Antwort: Das machen wir doch schon längst, weiter so. Ergebnis: „Rebellionsszenario“), wurde die Mittelklasseproblematik anderweitig thematisiert. Der Staat blutet sie aus. Er nimmt ihr zuviel Geld ab. Von den Einkommenssteigerungen bleibt per Saldo, wegen Inflation und progressiver Besteuerung und neuen Steuern (Mehrwert) wenig an Nettoplus übrig. Das ist aber nicht unser Thema.

Zwei Szenarien plus eins


Die folgende Abbildung zeigt, wie die Forscher von McKinsey Wachstum und Beschäftigung ohne und mit Paradigmenwechsel einschätzen. Die Unterschiede sind bemerkenswert. Wachstum pro Jahr 3.0 anstelle von 1.7, Erwerbstätige 6.1 Mio. im Vergleich zu 2,5 Mio.





Was nach McKinsey zu tun wäre, um vom „Basisszenario“ zum „Chancenszenario“ zu mutieren, zeigt die nächste Aufstellung. Unsere knappe Kommentierung ist farblich (grün) und durch Schriftgrad gekennzeichnet. Sie ist nicht unbedingt als Kritik gedacht. Das wäre auch angesichts der Kürze der vorgestellten Argumente unfair.

Erhebliche Dynamisierung der Wirtschaft erforderlich, aber auch möglich

  • Ein nachhaltiges Wachstum in Deutschland erfordert die Bereitschaft und Fähigkeit zur Erneuerung. Die Weichen dafür müssen jetzt gestellt werden.

  • Durch eine starke Stellung in den traditionellen Schlüsselbranchen und durch Spitzenpositionen in den wichtigen Zukunftsmärkten kann das mittlere Einkommen bis 2020 um mehr als 40% steigen. Dies ist eine wichtige Voraussetzung, um die demografische Herausforderung zu meistern. Wie lange können sich „traditionelle Schlüsselbranchen“ im Markt halten? Setzt nicht bereits vor 2020 ihr Niedergang ein, etwa in der Automobilproduktion, die jetzt schon mengenmäßig in Stagnation läuft? Wie lassen sich „traditionelle Schlüsselbranchen“ bei weltweiter Konkurrenz erhalten und ausbauen?. Worin besteht die demografische Herausforderung? Vergreisung? Altersarmut?

  • Deutschland ist ein Gewinner der Globalisierung. Umweltschutz und Klimawandel, demografische Entwicklung und technologische Transformation sind globale Trends, die zugleich Chancen eröffnen. Leerformel; die Chancen bestehen für alle; wo liegen die komparativen Wettbewerbsvorteile Deutschlands?

  • Eine zurückgehende Beschäftigung und die verpasste Erneuerung der wirtschaftlichen Strukturen haben die Entwicklung in Deutschland in den vergangenen beiden Jahrzehnten gebremst. Dieser Trend kann aber umgekehrt werden. Wie umkehren? Wie „verpaßt“? Die Erklärung auf die verpaßten Chancen auf Randbedingungen und Ähnliches zurückzuführen, reicht nicht. Vieles liegt tiefer. Etwa – und nur beispielhaft – Negativemotionen. Die Elite in Politik, Wirtschaft und Medien ist von Angst erfüllt. Der Ökonom nennt es Risikoaversion. Die Energie- und Klimapolitik lädt dem Bürger gewaltige Kaufkraftverluste auf. Das Geld für den Kauf von neuen Gütern und die Entwicklung neuer Märkte fehlt. Angst vor Mißerfolg: Angst vor Machtverlust, Angst vor „Tschernobyl II“, Angst vor Klimawandel, Angst vor Scheitern neuer Produkte (daher Festhalten am Bestehenden, Inkrementellen), Angst vor Selbstkannibalisierung, die Entstehung von Biomärkten in Mitteleuropa ist (auch) von Angst getrieben. McKinsey ist so eng mit den Entscheidungseliten verknüpft, daß die Innovationen beschränkende Angstpsyche sicherlich bekannt ist, aber nicht thematisiert werden kann/darf. Das Obige läßt sich ohne Schwierigkeiten in Wissens- und Ethikgründe einbinden, Wissen und Ethik somit innovationsretardierend rationalisieren. Peter Drucker doing things right (Problemlösung) herrscht über doing the right things. Geert Hofstede attestiert Deutschland eine hohe uncertainty avoidance. David McClelland: Angst vor Mißerfolg als Motivationskiller für Unternehmer.

  • Die Industrie wird ihre herausragende Rolle in Deutschland behaupten. Wichtig sind aber auch die signifikanten Wachstumspotentiale im Dienstleistungssektor und die Erneuerung der Infrastruktur.

  • Unternehmensnahe, handwerkliche oder haushaltsnahe Dienstleistungen: Wird ein für Anbieter wie Nachfrager gleichermaßen attraktiver Rahmen geschaffen, können sie sich zu einem wichtigen Jobmotor der deutschen Wirtschaft entwickeln. Was ist „attraktiv“? Woher kommt die Kaufkraft, diese nachzufragen? Handwerk dümpelt vor sich hin. Wie Bauinvestitionen fördern wenn die Realeinkommen und damit die Hauspreise stagnieren?

  • Grundlegend verbesserte Rahmenbedingungen, eine neue Einstellung zum (insbesondere akademischen) Unternehmertum sowie deutlich höhere Investitionen in Bildung und Infrastruktur schaffen die Voraussetzungen für eine dauerhafte Wachstumsdynamik. Problem: keine Unterschiede in den Unternehmerfunktionen. Ohne eine funktionelle Architektur von Unternehmertum bleiben Theorie und Praxis leer. RAIE-Modell: Routine, Arbitrage, Innovation, Evolution. Arbitrage/Finanzkapitalismus (Horst Köhler: „Monster“). Bildung bringt wie Wissen nichts, wenn sie nicht in Neukombinationen eingeht. Viele Hochschulabsolventen sind unfähig, ihr Wissen in der Praxis umzusetzen. Ist Bildung ein Armutsbekämpfer? Wie soll das funktionieren? Wenn besser (aus)gebildete nicht nachgefragt werden, bringt ihnen Bildung wenig. Woher kommt die Nachfrage? Es gibt zwei Wege, Nachfrage zu erzeugen: Lohnsatz und Innovation. Ohne letztere bewirkt erstere bei freiem Handel Stagnation von Einkommen (Armut), trotz Superbildung.

  • Mit modernen Instrumenten zur Unternehmensfinanzierung kann der Kapitalmarkt die wirtschaftliche Erneuerung beschleunigen und privaten Haushalten attraktivere Anlagemöglichkeiten, vor allem für das Alterssparen bieten. Wie die Regierung überzeugen? Beispiel Abgeltungssteuer. Eine der schlimmsten Reformen, vom Parlament durchgenickt. Beispiel Beteiligung an jungen/neuen Unternehmen. Fiskalinteressen siegen über Innovationsfinanzierung. Moderne Instrumente sind im Überfluß verfügbar. Sie liegen brach. Ihr Einsatz geht nicht ohne Umbau des Steuersystems und Prioritätsmutation in der politischen Klasse.

  • Die Universitäten müssen sich konsolidieren und klare Profile hervorbringen. Hierzu sind Rahmenbedingungen nötig, die Wettbewerb und Autonomie stärken (Nicht zentral). Universitäten sind Träger wissenschaftlicher Innovation und leisten mit ihren Forschungsergebnissen einen wichtigen Beitrag zur Dynamisierung der deutschen Wirtschaft. Die Lücke zwischen Wissen (Forschung) und Tun (Durchsetzen) ist gewaltig und es spricht wenig dafür, daß sie sich verringert. Die für die Durchsetzung von radikalen Neuerungen erforderlichen Fähigkeiten erodieren im Universitätssystem. Neue Industrien und Dienstleistungen hängen in extremer Weise an neuem, wissenschaftlich erzeugtem Wissen. Seine Umsetzung leisten neue Unternehmen, akademisches Unternehmertum. Eine erfolgreiche Zusammenarbeit von Universitäten (Forschung) mit Wirtschaft (Drittmittel usf.) ist zu hinterfragen: Was machen die Unternehmen mit dem Wissen? Verlängern sie ihre laufenden Produkt/Technologiezyklen? Der bislang einzige Weg zur Überwindung des GAP geschieht durch die Gründung neuer Unternehmen. Dies verlangt eine massive Förderung akademischen Unternehmertums. Wissenschaft erzeugt nur dann Wohlstand, auch für die Masse der Menschen, wenn sie in neue Wertschöpfung einfließt. Und dies verlangt zunehmend Wertschöpfung durch radikal-disruptive Neuerung und Neuerer. Siemens macht das nicht. Daimler auch nicht. Die Telekom auch nicht. Das Hauptproblem aus unserer Sicht wird durch McKinsey nicht angesprochen. Universitäten gewinnen eine neue Funktion jenseits von Forschung und Lehre: die Erzeugung hoch-energetischen Unternehmertums. Hier stellt sich die Wie-Frage. McKinsey ist ein Clusterfreund. “Kleinere regionale Universitäten konzentrieren sich auf … Lehre“. Exzellenzinitiativen, in Cluster eingebunden. Das bringt es. Wo auf der Welt? Nicht in den U$A, nicht in China. Wohl nur in Quatar.

  • Rund 1 Mio. zusätzliche Akademiker werden bis 2020 benötigt. Gleichzeitig können regulative Hemmnisse die Chancen geringer qualifizierter Bürger verringern. Ohne Neuerungen, auch disruptiv-radikaler Natur und verbessertem Innovationsmanagement in bestehenden Unternehmen leistet der Akademiker und der Facharbeiter einen Produkt- und Technologiezyklus zu Ende zu bringen. Der Weg ins Nichtsein.

  • Weltweit ist Deutschlands Infrastruktur bei Telekommunikation, Verkehr und Energie noch (beinahe) Spitze. Ohne massive Investitionen ist dieser Wettbewerbsvorteil in Gefahr.

  • Deutschland steht am Anfang einer umfassenden Transformation, Chancen und Handlungsfelder sind skizziert. (Dachten die Chinesen auch vor 1000 Jahren. Ergebnis: Ein Jahrtausend Stagnation). Nur mit einer breiten gesellschaftlichen Diskussion kann die notwendige Veränderung gelingen. Wir sind dabei das zu leisten. Die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten sind dafür die geeigneten Medien. Ihre Aufsichtsräte sind mit Politikern bestückt. Bessere Voraussetzungen gibt es nicht. Daß sie zudem die Kaufkraft der Bürger, gegen deren Willen, abschöpfen, ist Nebensache. Das Überflüssige leistet die große Transformation.


  • [1] Deutschland 2020. Zukunftsperspektiven für die deutsche Wirtschaft,; Deutschland 2020. Zusammenfassung der Studienergebnisse. Bertrand Benoit, Slow German growth sounds poverty alert, Financial Times, 4. Mai.
    [2] Haga & Röpke, „Wachstum durch Innovation“ (in Vorbereitung), Mafex working papers, www.mafex.de
    [3] Das Bild zeigt die ägyptische Göttin Selket, Wächterin über die Toten.