Es ist leicht zu sterben, aber schwer zu leben.
Japanisches Sprichwort.
Eine Untersuchung von Kenneth Manton zeigt uns bemerkenswerte Zusammenhänge zwischen Gesundheit, Alter und Innovation (1, 2 ). Sie stützen Ergebnisse, die wir in einem früheren Mafexblog skizzierten (3). Kenneth Manton ist ein statistisch-mathematisch orientierter Demograph. Er hatte über viel Jahre empirische Erkenntnisse zum Zusammenhang von Alter, Gesundheit und Arbeitsfähigkeit wissenschaftlich erarbeitet, welche die herrschende Sichtweise auf den Kopf zu stellen scheinen und daher in der wissenschaftlichen Gemeinschaft auf Ungläubigkeit stießen. James Vaupel (Max Planck Institut für Demographie in Rostock) denkt in eine ähnliche Richtung und hat früher mit Manton zusammen veröffentlicht. Soweit wir sehen, werden die Erkenntnis dieser Forscher bis heute noch nicht wirklich ernst genommen und nur marginal in der Gesundheits-, Arbeitsmarkt- und Innovationspolitik reflektiert.
Die herrschende Sichtweise unter Demographen und Gesundheitsökonomen: Wirst du alt, leidest du immer mehr an immer mehr Gebrechen, dein Gehirn rostet, deine Arbeitsfähigkeit sinkt und an den chronischen Krankheiten des Alterns kann die Medizin bislang ohnehin wenig ausrichten. Manton zeigt nun an Hand von amerikanischen Daten, daß die chronische „disability“ von über 65-Jährigen zurückgeht und zudem in einem graduell zunehmenden Umfang. Der Rückgang hat sich von 0.6 Prozent im Jahr 1982 auf 2.2 Prozent in den Jahren 1999-2004 beschleunigt. „We found a significant rate of decline in the prevalence of chronic disability that accelerated from 1982 to 2004“(2). Noch bemerkenswerter: bei Menschen über 85 war der Rückgang noch höher.
Anstelle von einer zunehmend älter werdenden Bevölkerung von debilen, chronisch Kranken und arbeitsunfähigen Alten, mit entsprechender Belastung der sozialstaatlichen Kassen, nimmt der Anteil aufgeweckter, arbeitsfähiger, kreativer Menschen in der Gruppe der über 65-Jährigen zu, nicht nur absolut, sondern anteilsmäßig. Es geht hier nicht um das übliche, politisch korrekte Gerede über „Senioren“ (und ihre Wählerstimmen) und wie wir an ihre Kaufkraft kommen (4); vielmehr um empirisch belegte Zusammenhänge, welche alten Menschen eine wirtschaftliche Funktion jenseits von Konsum von privaten und öffentlichen Gütern bis in Altersregionen hinein eröffnen, die bislang für unternehmerisches Tun in seiner ganzen funktionalen Vielfalt verschlossen schienen: Gesunde alte Menschen als Treiber wirtschaftlicher Dynamik.
Wir haben Ähnliches am Beispiel Japans aufzeigen können (5). Japan ist die älteste Gesellschaft auf der Erde. Sie erlaubt also, die Überlegungen von Manton zu überprüfen. Was Manton nicht im Blickfeld hatte, aber seine Überlegungen untermauert, ist der zunehmende Anteil alter Menschen bei der Gründung von Unternehmen (in Japan). Nach der herkömmlichen Logik betrachtet ist dies theoretisch und empirisch zumindest nicht plausibel, und wird daher auch in jüngeren Studien zum Zusammenhang zwischen demographischem Wandel und Wirtschaft wenig beachtet: Alte Menschen als Pioniere der Gründungsdynamik.(3)
Manton und Kollegen belegen mit ihren Daten: die Gesundheit steigt mit der Lebensspanne bzw. die „chronic disability“ sinkt, d.h. älter werdende Menschen, nicht alle, aber eine große Gruppe von ihnen, leben zunehmend gesünder. Die wesentliche Quelle dieses Fortschritts sind für Manton u.a. medizinische Innovationen. Da die Menschen, innovationsbedingt, länger physisch und mental gesünder leben, und wenig spricht dagegen, daß dieser Trend nicht anhalten könnte, steigen auch die wirtschaftlichen Wohlfahrtsgewinne und die Sorgen über die finanziellen Belastungen in einer alternden Gesellschaften könnten sich als zunehmend weniger begründet herausstellen.
Theoretisch behaupten wir eine positive Rückkopplung zwischen medizinischer Innovation (nennen wir sie im Hinblick auf die Zukunft: integrale NBIC-Innovation, Nano, Bio, Info, Cogno) und zunehmender Altersgesundheit bzw. Ausweitung der gesunden Lebensspanne bei immer mehr Menschen. Innovation fördert Gesundheit und Gesundheit erlaubt die Ausweitung der zeitlichen Spanne und der Menge unternehmerischer Tätigkeit (inklusive Innovation).
Der Kern des Arguments von Manton: Damit dieser historische Trend in die Zukunft weiter läuft, sind ansteigende Investitionen in die medizinische Forschung notwendig. Die Autoren quantifizieren ihre Überlegungen: Wenn nur 30 Prozent der alten Menschen mit guter Gesundheit sich dafür entscheiden, länger zu arbeiten (in Japan tun sie dies bereits), sind die daraus folgenden wirtschaftlichen Vorteile groß genug, um eine Verdoppelung der Investitionen in biomedizinische Forschung während der kommenden fünf Jahre und eine Vervierfachung über eine längere Zeitspanne zu rechtfertigen.
Die amerikanischen Forscher unterstellen dabei, mit gewissem Recht, für die USA: durch Forschung gewonnenes neues Wissen versickert nicht im Wissenschaftssystem, sondern wird von Unternehmen, viele davon neu gegründeten, in medizinische Innovation umgesetzt. Der Knowing-doing-gap bleibt mit anderen Worten bescheiden. Für die EU-Länder können wir diese Annahme nicht machen. Mehr Forschung heißt hier nicht auch mehr Innovation. Die Kopplung zwischen Wissenschaft und Wirtschaft ist ausgedünnt.
Ein weiterer Punkt ist zu bedenken, falls man sich Gedanken macht, wie umfassend der geschilderte Trend für eine gesamte Gesellschaft gültig ist. Für viele Länder – USA, Europa, China – zeigt sich eine Abnahme des Gesundheitsbewußtseins: Vom Kindergarten bis zur letzten Ölung. In Ländern der sog. Dritten Welt ist Gesundheitsbewußtsein bis heute ein Fremdwort. Ein guter Indikator dafür ist die Gewichtszunahme.(6,7). Entwicklungsländer importieren die chronischen Krankheiten der reichen Länder. Wie? Demographisch: Die Menschen dort leben länger, haben also mehr Zeit, Krankheiten einzufangen. Evolutionsökonomisch: Ihr unterentwickeltes Gesundheitsbewusstsein läßt sie ungesunde Lebensstile ( „rich world maladies“ ) aus den reichen Ländern nachahmen. Ein Paradox der Entwicklungshilfe: Durch Bekämpfung von Infektionskrankheiten, Schwerpunkt der öffentlichen und privaten (Gates Stiftung) Bemühungen leben Menschen in der Dritten Welt länger – nur um Opfer ungesunder Lebensstile zu werden. Die Bekämpfung chronischer Krankheiten spielt zudem bei Entwicklungshilfe eine untergeordnete Rolle. Dazu kommt – der World Trade Organization sei gedankt - der freie Import von Killerfood.
Wir vermuten daher, daß die von Manton et al. vorgestellten Ergebnisse für jenen Teil der Gesellschaft gelten, der einigermaßen gesund lebt und im Alter gesund bleiben will, der also, wie wir sagen, selbstevolutiv tätig ist. Dies spricht nicht gegen Investitionen in Forschung, Entwicklung und Innovation. Dies ist eine notwendige Bedingung. Sie ist aber nicht hinreichend, falls nicht mehr Menschen ihre Lebensgewohnheiten ändern. Was zu tun ist, weiß hierzulande nahezu jedermann (In Entwicklungsländern herrscht Unwissen bis in höchste Kreise der politischen Klassen): Das Wissen bleibt ungenutzt. Wenn diese Lücke zwischen Wissen und Tun sich ausweitet oder nur stabilisiert, spaltet sich die Gesellschaft: die Frühsterber oder Längerleber mit prekärer Gesundheit, die aus physischen und mentalen Gründen auch nicht länger arbeiten können und jener Teil relativ gesundheitsbewußter Menschen, die lange gesund leben wollen, einiges dafür tun, Vermögen akkumulieren (Die Abgeltungssteuer kommt gerade richtig!) und zusätzlich noch in den Genuß medizinischer Innovation kommen, die sie allerdings, volkswirtschaftlich betrachtet, selbst hervorgebracht haben bzw. miterzeugen (durch Mehrarbeit, unternehmerisches Tätigsein). Ihr länger-gesundes Arbeitsleben schafft die finanzielle Basis für medizinische Forschung und Innovation, und diese erzeugt weitere Möglichkeiten, um eine gesunde Lebensspanne weiter auszuweiten. Auf Deutsch sagt man dazu: Zweiklassenmedizin. Wer sie nicht (zulassen) will, übt sich in der Abtreibung einer innovationsgetriebenen Gesundheitswelle (Kondratieff 6ff.).
(1) Kenneth G. Manton und andere, Labor force participation and human capital increase in an aging population and implication for U.S. research investment, Proceedings of the National Academy of Science of the United States of America, vol. 104, no. 26, 15. Juni 2007, S. 10802-10807.
(3) Medizinische Innovationen verlängern das Leben, Mafexblog, 14. 8. 2008.
(4) Roland Berger Strategy Consultants (2007a): Den demografischen Wandel erfolgreich bewältigen.
Roland Berger Strategy Consultants (2007b): Wirtschaftsmotor Alter.
(5) Kazue Haga, & Jochen Röpke, , Gründungsdynamik in alternden Gesellschaften: Hinweise aus Japan, Mafex working papers 06/2007.
(6) The Economist, The maladies of affluence, , 9. August 2007.
(7) The Economist, Fat and getting fatter, 23. August 2007 .
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