Mittwoch, 23. April 2008

Wer zahlt für die Alten? Input- versus Innovationslogik

Kazue Haga & Jochen Röpke

21. April 2008

Die Jungen regen sich schon auf, wenn es um die Erhöhung der Renten geht – nicht einmal ein Inflationsausgleich sei zugestanden. Die „Formel“ ist heilig. Keine Ausnahme.

In Italien scheint die Gesellschaft bereits gekippt: „… die Klasse der Vergreisenden (siegt) locker über die junge Generation“[1] In Deutschland wird eine „Rentner-Republik“ ausgerufen: „Die Alten übernehmen die Macht“ (Bild, 10. April).

Mehrgenerationenkonflikt, wachsender Konflikt zwischen denen, die Wertschöpfung erwirtschaften und jenen, die über Transfers versorgt werden. Kommentatoren, Wissenschaft und Politik reagieren, viele empört, über die Abzocke durch die Alten – noch mehr über jene im Politiksystem, die solches ermöglichen. Die Demokratie ist neu zu gestalten, den Alten die Macht der Stimme beschneiden, usf. Mit Alten sind hier immer Konsumenten, nicht Produzenten von Werten gemeint. Der „Senior“ als Wertschöpfer ist out – er zählt als Stimme, als Konsument, als Kostentreiber. Folge: die Nullsumme herrscht. Adam Smith nannte es den „fixed cake“: Schneiden die Alten ein größeres Stück aus dem Kuchen, bleibt für die anderen weniger. Annahme: der Kuchen bleibt wie er ist: fixed.

Ein Blick einige Jahrzehnte in die Zukunft zeigt, was auf uns zukommt. „Uns“ sind diejenigen, die jetzt noch arbeiten. Schauen wir in das Jahr 2050. Wer heute 30 ist, ist dann 70. Arbeitet er noch? Mit 70? Oder 80? Muß er arbeiten? Wir sind gerade bei 67 angekommen, aber bis es soweit ist, dauert noch eine Weile. Die Japaner haben weniger Hemmungen. Einer von drei der über 60-Jährigen, arbeitet noch. Japanische Angestellte erreichen ihre betriebliche Altersgrenze meist mit 60, aber sie erhalten ihre staatliche Rente erst mit 65. Und die alten Japaner stellen die meisten Unternehmensgründer im Land der aufgehenden Sonne.[2] Müssen die heute noch Jungen (= noch Nicht-Ruheständler) länger arbeiten? Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit bezeichnen wir als Inputlogik, dem wir eine Innovationslogik gegenüberstellen. Unsere These: Inputlogisch sehen „Lösungen“ „brutal“ (Koch) aus, für alle Beteiligten. Immerhin: Die für die Volkswirtschaft verfügbar Menge an Arbeit steigt mit einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Diese Mehrmenge an Arbeit ist notwendig (a) weil die Menschen im Arbeitsleben zu wenig verdienen, um eine Altersrente aufzubauen[3]; (b) weil der Staat ihnen, zukünftig, im Alter, keine Existenz jenseits der Armutsgrenze mehr sichern kann; (c) weil die Anreize zur steuerfreien Vermögensakkumulation bescheiden sind; (d) weil akkumuliertes Vermögen, sollte ein Mensch später unter die Sozialhilfeschwelle fallen, der Verpflichtung unterworfen wird, Vermögen zu „entsparen“? (e) weil die Innovationsdynamik nicht ausreicht, ihre Realeinkommen merklich zu steigern.

Werfen wir einen Hinblick auf unser Nachbarland, um zu sehen, was altersmäßig auf uns zukommen könnte. [4] Obwohl der Verstand der Franzosen ihnen sagt: Ich muß länger arbeiten, sie tun es nicht. „Die Gehaltsempfänger wollen immer noch so schnell wie möglich in den Ruhestand“, faßt Les Echos eine Umfrage bei den Beschäftigten zusammen. [5] Die politische Klasse sucht mit Mühe eine Lösung, die „Alten“ länger arbeiten zu lassen. Die Gewerkschaften lehnen es, wie in Deutschland, aus Gründen, die man verstehen kann, bis heute ab. Folge ist eine Explosion der Defizite in den Rentenkassen. Bis zum Jahr, ceteris paribus, 75 Mrd. Euro.[6] Die Franzosen und ihre Gewerkschaften sind zu Recht habgierig. Wenn ein Staat über die Hälfte der Wertschöpfung (53.5%) an sich zieht, und einen beträchtlichen Teil davon für großzügige Alters- und Krankenvorsorge ausgibt, bleibt dem Einzelnen ohnehin wenig. Was soll ich noch mehr arbeiten? Genieße dein Leben, so früh und so oft (Ferien machen) du kannst. „Frankreich ist Weltmeister – zumindest im Urlaub“: 37 Tage.[7]

Aber dies ist erst ein Vorspiel. Die Menschen leben länger und länger und länger. Und viele leben länger gesünder. Die französischen Statistiker haben die Daten:


Eine einfache Rechnung: Jeder 100-Jährige arbeitet bis 60 (gegenwärtig in Frankreich weniger). 40 Jahre bezieht er Rente/Pension. Jedes Jahr 30,000 Euro (Preise von heute). Bis zu seinem Tod sind das 30,000 mal 40 Jahre = 1,200,000 Euro. Bei 60,300 Hundertjährigen kostet die Franzosen das Alter der „centenaires“ 72 Mrd. Gesundheitskosten fehlen noch. Pflege auch. Das was auch noch fehlt ist aber gravierender. Die Schätzungen der Bevölkerungsstatistiker scheinen uns untertrieben.

Zu den laufenden Kosten des Unterhalts der (über) 100-Jährigen kommen die Kosten für Rente, Pflege und Gesundheit der über 10 Millionen 70-Jährigen Franzosen im Jahr 2050.

Aubrey de Grey: „ Der erste 1000 Jahre Alte ist heute weniger als 20 Jahre jünger als der erste 150-Jährige.“[8] Verrückt? Was de Grey sagt, ist genau so Zukunft wie die 60,300 hundertjährigen Franzosen. Allerdings: im Jahre 2030, wenn in Frankreich, mit hoher Wahrscheinlichkeit 30,000 Hundertjährige leben, wird auch klar sein, ob Aubrey de Greys Vermutung mehr als die Vision eines Biogerontologen ist, dessen Sichtweise nunmehr auch Kritiker wie Jay Olshansky (siehe unseren Blog „Dividende der Langlebigkeit“, 17. 1. 2008 und „Wie entstehen Basisinnovationen?“, 17. März 2008) nicht mehr rundheraus verwerfen.[9] Das Risiko, Leute wie De Grey oder Kurzweil (siehe unten) nicht ernst zu nehmen, steigt mit jeder medizinischen Neuerung.

Wer bezahlt das längere Leben? Bei den gegenwärtig in Frankreich wie Deutschland installierten Umlageverfahren zahlen die arbeitenden Generationen. Um einen 100 Jährigen ein menschenwürdiges Leben im Alter zu finanzieren, müssen durchschnittlich 10 Beschäftigte über ihre Sozialabgaben aufkommen. Sagen wir 5 Prozent Abzug vom Einkommen (die andere Hälfte zahlt der Arbeitgeber). Bei einer Lohnsumme von 300,000 (Durchschnittseinkommen mal 10 Personen) sind 5 Prozent 15,000 Euro. Die andere Hälfte zahlen indirekt wiederum die Arbeitskräfte (über geringere Nachfrage nach Arbeit bzw. relativ schlechtere Arbeitschancen aufgrund hoher Sozialabgaben: Verteuerung der Arbeit). Mehr als eine halbe Million Beschäftigte müssten also die 60,300 100-Jährigen über die Runden bringen. Zugegeben: wir haben hier kein Problem, das zu lösen ist, sondern wir erfinden ein Problem. Aber auch dieses wartet auf seine kreative Lösung.

Wir skizzieren zwei Möglichkeiten: Inputlogik (Ressourcenvermehrung; Mehrarbeit; siehe oben) und/oder Innovationslogik (Neukombination der Ressourcen inklusiver jener durch Mehrarbeit erzeugten). Harte Arbeit plus Münchhausen. Beide Möglichkeiten verlangen einen Freiheitsschub in der Gesellschaft: Jeder kann sich, unabhängig vom Alter, in der Wertschöpfungskette engagieren. Ob als Arbeitender, als Unternehmer, als „Kapitalist“ (Sparer, Investor). Gegenwärtig installierte Regeln und Anreizsysteme verhindern oder erschweren ein solches Engagement. Sie dürfen nicht. Oder sie wollen nicht (weil Nichts-Tun höhere Einkommen erzeugt als Tun).

Der Staat müßte beispielhaft voranschreiten, fordern französische Gewerkschaften. „Wir haben eine historische Chance, die Organisation des Arbeitsmarktes grundlegend zu verändern“.[10] Es herrschen Vorurteile über das Vermögen chronologisch alter Menschen, produktiv zu arbeiten (angestellt, selbständig). „Personalchefs ignorieren Demografie“: „Das Kind ist kollektiv in den Brunnen gefallen, weil die Kurzfristdenke gesiegt hat“ (Frank Dievernich, Kienbaum). [11]

Beide Möglichkeiten sind einzubinden in eine Förderung des privaten Vermögensaufbaus, zumindest eine Beendigung seiner Diskriminierung. Alte Menschen bei guter Gesundheit arbeiten länger (auch wenn ihre Einkommen, mit oder ohne Sinken ihrer Arbeitsproduktivität, geringer sind). Die Freiheit für das Humankapital alter Menschen wäre substantiell auszuweiten. Über Altersteilzeit und Teilrente bewirken wir das Gegenteil. Vorzeitig aus dem Berufsleben aussteigen ist das Gegenteil von dem, was demographisch notwendig wäre, insbesondere, wenn Innovation und Vermögensakkumulation durchhängen. Schwachinnovative Betriebe haben Schwierigkeiten, „Alte“ zu beschäftigen – außer bei substantiellen Lohnzugeständnissen. Hungerlohn für Senioren. In einer Routinewirtschaft mit Marginalneuerungen laufen wir in Riesenprobleme, mit und ohne „Formel“. Eine innovationsdynamische Wirtschaft kann sich Alte leisten. Eine innovationsarme züchtet Armut unter Alten, unvermeidbar. Sie bewirkt auch, zwangsläufig, einen starken Druck - über die Finanzierung von Behandlung von Krankheiten und Pflege, den „Leistungskatalog“ einzuschränken, fördert somit eine langsamere Ausweitung der Lebensspanne. Vollzieht sich Mehrarbeit ohne Anbindung an Innovation, bleibt ihre Wirkung bescheiden. Die Leute verdienen mehr, weil sie mehr/länger arbeiten. Ihre Wertschöpfung je Arbeitseinheit bleibt konstant oder sinkt. Da Alter mit abnehmender Produktivität einhergeht (weitverbreitete Meinung), sinkt auch das Einkommen der Alten. Die Konkurrenz um Arbeitsplätze bewirkt eine tendenzielle Lohnsenkung. Teilzeitarbeiter, Junge, Immigranten spüren das. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit rettet das Rentensystem. Die Kosten ohne Kopplung an Neukombinationen sind hoch. Die Nullsumme regiert.

Ein anderer Weg ist die Neukombination. Die Wirtschaft innovativer machen, insbesondere durch Neugründungen von Unternehmen, und hier wiederum Neugründungen mit hoher Wissensintensität. Wir betonen die neue Unternehmung, weil das Fortschreiben bestehender Basisinnovationen in bestehenden Unternehmen (etwas Automobil) nicht ausreicht. Noch näher am Thema: Beispielsweise haben Pharmaunternehmen haben große Schwierigkeiten, die Radikalität von Bio- und Nanotechnik in Wertschöpfung und neue Arbeitsplätze umzusetzen.[12] Über medizinische Innovation wird die gesunde Lebensspanne von Menschen weiter verlängert, andererseits jedoch soviel an neuer Wertschöpfung und Arbeitsplätzen geschaffen, daß die Arbeitenden immer noch über ein substantielles Mehr an Einkommen (Kaufkraft) verfügen.

Unterstellen wir die historisch belegte Hypothese: Lebensverlängerung ist eine Funktion der Innovationsdynamik einer Gesellschaft. Betrachten wir hierzu, wie sich die Lebenserwartung vor und nach der industriellen Revolution entwickelt hat.

Der medizinische Fortschrittwährend der kommenden 40 und mehr Jahre könnte die Anzahl der über 100-Jährigen nach oben schnellen lassen. Zudem beschleunigt ein Fortschritt das Eintreten weiterer Fortschritte. Nach dem Law of Accelerating Returns von Ray Kurzweil entwickeln sich neue Technologien (bei Kurzweil Wissen, von dem er, als Amerikaner zurecht, annimmt, es gehe auch in die Anwendung), mehr als exponential. Die Zunahme des Zuwachses an Wissen beschleunigt sich. Der Wissenszuwachs ist exponentiell. Die Rate des Wandels erhöht sich. [13] „Das gesamte 20. Jahrhundert ist gleichbedeutend mit 20 Jahren gegenwärtigen Fortschritts. Und wir machen weitere 20 Jahre Fortschritt in den nächsten 14 Jahren


bei der heutigen Fortschrittsrate, gleichbedeutend dem gesamten 20. Jahrhundert, und danach schaffen wir es in sieben Jahren. Wegen der explosiven Kraft exponentiellen Wachstums, wird das 21. Jahrhundert äquivalent 20,000 Jahren Fortschritt mit der heutigen Fortschrittsrate sein. Das ist 1000-mal mehr als das 20. Jahrhundert.“ Kurzweil sieht einen Evolutionsprozeß am Werk (siehe Abbildung), der in „Epoche 5: Merger of technology and human intelligence“ und „6: The universe wakes up“, eine Fülle neuer Technologien hervorbringt, welche auch den Alterungsprozeß noch stärker dynamisieren, wie weiland die industrielle Revolution.


Quelle: Kurzweil http://www.acceleratingfuture.com/people-blog/?p=1676 As you go out to 2029, one of my predictions is that we will have human-level intelligence by that time–Turing test-capable computers. We will have completed the reverse engineering of the human brain, but this will not be an alien invasion of intelligent machines that will compete with us. We are going to augment our own intelligence and nanobots will be able to go into our brains through the capillaries and interact with the biological neurons. Was bedeutet solches beispielsweise für die Behandlung altersverwirrter Menschen? Kann man überhaupt noch demenzkrank werden (vorausgesetzt, man kann die neue Technik bezahlen), wenn sich die Vision von Kurzweil verwirklicht? Ein Sprung in die gesunde Lebensverlängerung. Demenz ist heute eine sich epidemisch ausbreitende Krankheit mit oftmals tödlichem Ausgang: „Live long enough and you too can get a rotted dilapidated brain. Brain aging is very expensive. Millions of people have cognitive impairment short of dementia“. [14]

In der neukombinativen Gesellschaften sind alte Gesellschaften auch reiche Gesellschaften. Innovationen erzeugen steigende Wertschöpfung pro Kopf und neue Arbeitsplätze. Sie verlängern das gesunde Leben. Der medizinische Fortschritt und eine Umstellung der Lebensweise grenzen eine kognitive Verarmung mit zunehmendem Alter Schritt für Schritt ein. Chronologisch alte Menschen leben länger gesünder, arbeiten länger, sparen und akkumulieren länger. Investitionen in innovative Unternehmen erzeugen hohe Renditen. Innovationen haben einen Münchhauseneffekt.

Mit einem längeren und gesünderen Leben ändert sich das Risikoverhalten, höherrentable Anlagen erleichtern den Vermögensaufbau - wenn der Staat nicht, wie bei der Abgeltungssteuer, eine eigenverantwortliche Altersvorsorge erschwert. Hier kann der deutsche Staat von Frankreich lernen. Die Einführung eines Systems der Besteuerung aus Kapitalvermögen, bei minimalen Freibeträgen, wie in Deutschland, würde in Frankreich einen neuen Sturm auf die Bastille auslösen.

[1]
Dirk Schümer, Kopf hoch, wertlose Greise, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. April 2008, S. 35.
[2]
Haga & Röpke, Gründungsdynamik in alternden Gesellschaften, Mafex Working Papers, 27. Juli, 2007.
[3]
Kai Belle, 2 Millionen Deutsche schuften für 5 Euro, Financial Times Deutschland, 18. April 2008.
[4]
Laut einer Untersuchung des japanischem Cabinet Office (2005), betragen die staatlichen und privaten Renten in Frankreich 83,5 % der Einkommen der über 60 Jahre alten Menschen, 80,9 % in Deutschland und 74,9 % in Japan. Einkünfte aus Erwerbstätigkeit betragen in Frankreich 9,5 % der Einkommen, 10,2 % in Deutschland aber 17,7 % in Japan. (in japanischer Sprache), Abruf am 01.04.08.
[5]
Die Umfrage ist verfügbar unter www.lesechos.fr/documents. Der Artikel erschien in Les Echos, 28. März, 2008, S. 3.
[6]
Conseil d’orientation des retraites, 2007; zitiert in Le Figaro, Economie, 28. März 2008, S. 19
[7]
Welt Online, 17. April 2008:
[8]
Arguing the scientific feasibility of anti-agin.
[9]
Vergleiche unsere Blogs „Dividende der Langlebigkeit“ vom 17. 1. 2008 und „Wie entstehen Basisinnovationen?“ vom 17. März 2008.
[10]
François Chérèque von der Gewerkschaft CFDT, „Sur la réforme des retraites, François Fillon est amnésique“, Les Echos, 3. April 2008, S. 5.
[11]
Frankfurter Allgemeine, 27. März 2008, S. 15.
[12]
Viele Befunde. Zum jüngsten: Michael Psotta und Stephan Finsterbusch, Biotechnologie: Viel Forschung und wenig Erfolg, FAZ, 18. April 2008.
[13]
Zum Law of Accelerating Returns siehe: kurzweilai.net Abruf am 02.04.08.
[14]
Lifetime Alzheimers and dementia risks calculated, Future Pundit, 19. März 2008.

Samstag, 5. April 2008

Ein Euro pro Tag

Jochen Röpke

Soviel verdient ein Landarbeiter in einem indonesischen Dorf in Westjava, der höchstentwickelten Provinz in Indonesien. Seine Familie, drei Personen, benötigt zum Überleben drei Euro (40,000 Rupiah).[1] Die Landflucht schlägt daher neue Rekorde. Im informellen Sektor der Städte läßt sich etwas mehr verdienen, aber bei 1.8 Millionen Arbeitslosen in Westjava ist das ohne Selbstausbeutung auch nicht zu machen. Immerhin fördert die Provinzregierung das Training von Unternehmertum bei Arbeitslosen,[2] was wir in Deutschland, dem Land der Mitnahmeeffekte, wieder abgeschafft haben. Frau und Kinder bleiben im Dorf. Landwirtschaft wird eine Angelegenheit von Frauen. Die Diskriminierung von Frauen ist hier, sogar ohne EU, chancenlos. Beschäftigungsmöglichkeiten auf dem Land sind rar, versteckte Arbeitslosigkeit verbreitet. Da die Einkommen bereits am Existenzminimum liegen, hilft ihnen auch die deutsche Einsicht wenig, durch Lohnsenkung Arbeitsplätze zu schaffen. Auf die Idee, Geld für Lohnsubventionen à la Nokia zu spendieren, ist noch niemand gekommen. Das Kinderhilfswerk hat sich auch noch nicht sehen lassen. Ihre Berater lassen sich schließlich nicht für einen Euro pro Tag abspeisen. Und die Fahrer von Cayennes in der Londoner City und ihr Master aus Zuffenhausen haben anderes im Kopf als das von ihnen mit verursachte Elend in der Dritten Welt. Wir beobachten eine zweifache Umverteilung des Reichtums: Zwischen Reichen und armen Ländern und innerhalb der armen Nationen. Entwicklungshilfe, auf Indonesisch gesagt: lupalah! Vergiss es! Was passiert? Nichts – außer gelegentlicher Berichterstattung in der Zeitung, auf die sich der Autor stützt. Da gerade die Reisernte im Gang ist, berichten die Medien ausführlich über das, was auf den Dörfern so alles vor sich geht. Über Preise und Einkommen zu reden, ist in Indonesien Teil der Kultur. Jedermann weiß was der Präsident mit nach Hause nimmt. Alles ist optimal geregelt, wie in den Lehrbüchern der Ökonomie, auf deren Grundlage sich die Bundesregierung beraten läßt. Die Bauern verkaufen ihren Reis (Rohreis, gabah) für 2,000 bis 2,500 Rupiah (0.20 Eurocent) pro kg an die Händler. Auf einem Hektar erzeugen sie fünf Tonnen ungeschälten Reis, der ihnen 500 Euro bringt.[3] Natürlich betrachten sie sich als abgezockt – aber schließlich bestimmen Angebot und Nachfrage den Preis. Genossenschaften existieren nicht (mehr). Innovation ist – lehrbuchgerecht – eine Rarität. Neue Arbeitsplätze gibt es daher auch nicht. Die Armut funktioniert also so, wie es das neoklassische Paradigma lehrt: effizient. Die indonesischen Bauern könnten Verdi darüber Nachhilfe erteilen, was einen gerechten Lohn ausmacht. Eine Eigenschaft der Daten über Armut in Indonesien ist ihre Schwankungsbreite. Das Amt für Statistik Indonesiens (Biro Pusat Statistik) schätzt den Anteil der Armen auf 16.5 Prozent der Bevölkerung, die Weltbank auf knapp die Hälfte der Bevölkerung (49 Prozent).[4] Wichtig ist natürlich, wie aus solchen Daten Informationen werden und aus Information sich Wissen erzeugt, insbesondere bei der politischen Klasse des Landes. Als kürzlich eine Mutter und ihre zwei Kinder verhungerten, löste dieses Ereignis einen Minischock im Lande aus - das war es auch schon. Die politische Klasse beschäftigt sich mit sich selbst. 2009 steht die Wahl an. Wie verteilen wir die Sitze? Wie halten wir die Konkurrenz neuer Parteien aus dem System heraus (deutsche Lösung: 5 Prozent)? Wie organisieren wir die Demokratisierung der Demokratie – zu unserem Vorteil? Die Armen bekommen Gutscheine um Lebensmittel wie Speiseöl billiger zu erstehen. In einem Bezirk der Hauptstadt Jakarta verteilen staatliche Unternehmen (Telekom, Bank Mandiri u.a) an 4000 Haushalte Nahrungsmittelpakete im Wert von jeweils 50,000 Rupiah (knapp 4 Euro, in Kaufkraft das Doppelte: Reis, Speiseöl, Zucker, Nudeln): „Corporate social responsibility“. [5] Die Presse berichtet ausführlich, welch großes Geld sich mit Palmöl (und Kokosnüssen, Superersatz für konventionellen Dieselsprit) verdienen lässt. Der Wirtschaftsminister des Landes (Bakrie) mischt über seine Plantagenfirma (Aktien auch in Deutschland gehandelt) kräftig mit.[6] „Der Baum des Lebens“ (Kokospalme) hält unsere Cayennes am Leben. Ave Gabriel, Thank you GWB, danke EU, danke auch den CDU-Lobbyisten für Biodiesel.[7] Der Bioethanolraffinerie von Südzucker produziert politisch-korrekte Güter. Die Todgeweihten grüßen Euch! Immerhin leisten wir unseren Beitrag zum Lebensunterhalt in indonesischen Dörfern. Die ökologischen Erzengel einschließlich Gabriel, vom Gott Gaia auf die Erde gesandt, kommen in unser Land, sogar in God’s Own Nation, stärken unser Bewußtsein, doch endlich mehr Biosprit zu produzieren.

„60 Prozent des Anstiegs des weltweiten Getreideverbrauchs sind der amerikanischen Ethanol-Industrie zuzuschreiben. Sie sorgt nicht nur für hohe Preise und eine zusätzliche Verknappung des Angebots, sie verringert auch die Zahl der Anbauflächen für Lebensmittel – nicht bloß in den Vereinigten Staaten. Wir erwarten Preisanstiege zwischen 50 und 100 Prozent für etliche Agrarrohstoffe.“

Diese Beobachtung macht der Leiter des Rohstoff-Research der Deutschen Bank, Michael Lewis.[8] Der Chef von Nestlé, Peter Brabeck, fürchtet um sein Geschäft: „Wenn man zwanzig Prozent des Treibstoffs mit Biotreibstoffen anreichern will, bleibt zum Essen nichts mehr übrig“.[9] Biotreibstoffe sind ein sprachlicher Affront gegen die Biobranche. „Agrotreibstoffe“ muß es korrekterweise heissen. Die EU wird hier sprachlich auf dem Verordnungswege nachbessern müssen. Dafür hat sie das Recht, die Bürger zu zwingen, ihrem Treibstoff nachwachsende „agrofuels“ beizumischen. Ungehorsam ist hier nicht erlaubt, sogar „illegal“, auch wenn dies, wie so oft, den Wohlstand der Menschen mehrt. Die indonesischen Bauern danken es uns. Den Reis essen sie, teilweise noch selbst - noch. Einige können sich den selbstproduzierten Reis nicht mehr leisten (Ägypten hat die Reisausfuhr mittlerweile eingestellt, berichtet Les Echos, 31. März 2008, S. 11). Beim Speiseöl zum Kochen und Braten müssen sie täglich höhere Preise bezahlen. 13,750 Rupiah pro kg, exakt ein Euro, ein neuer Höchststand.[10] Für den Ökonomen interessant ist die Aussage der Beteiligten: Niemand weiß so recht, auf den indonesischen Märkten, warum die Preise so hoch sind (Die deutsche Botschaft hat ihnen noch keinen Kontakt mit den allwissenden Klimaforschern aus Potsdam ermöglicht). Das Entdeckungsverfahren des Marktes (F.A. Hayek) funktioniert in Reinkultur. Indonesien produziert eigentlich genug Palm- und Kokosöl. Aber die Plantagen verkaufen es auf dem Weltmarkt bei rasant steigender Nachfrage - für die Produktion von Kraftstoff (biofuel). Zumindest die Orang Utans (Waldmenschen) und Tiger und Elefanten haben es besser. Sie brauchen sich um ihr Überleben keine Sorgen mehr zu machen. Palmölplantagen ersetzen den Urwald. Der einzige Lichtblick: den Tibetunterdrückern geht es an den Kopftopf. Die Han leiden wie die indonesischen Pribumis. Der Preis für Speiseöl stieg auch in China um nahezu 50 Prozent. Die Rache des Buddha nimmt noch schlimmere Züge an. Schweinefleisch, ohnehin nicht hallal, verschwindet vom Speisezettel der Armen. Zu teuer, die Mast ist für die Bauern unerschwinglich, zudem wüten Seuchen in den Schweineställen. [11]Japan hat schon im vergangen Jahr die Ausfuhr von Reis nach China eingestellt und auf gute Geschäfte verzichtet. Alzheimertest „Gewöhnlicher Reis wird für Y 16,000 (€ 95) pro Sack (bag) in Japan verkauft. Aber er kostet Y 78,000 in China. Sogar jemand mit Alzheimer kann sehen, was von 16,000 und 78,000 das teurere ist.“ Taro Aso, japanischer Außenminister, über die Vorteile japanischer Reisexporte nach China. Financial Times, 21. Juli, 2007, S. 3. PS. Der Minister erntete ob des Vergleichs Proteste mußte sich entschuldigen.
Kleben wir wenigstens einen Aufkleber mit Tigerkopf in unsere Cayennes, damit wir uns daran erinnern, wem wir für unseren Tankinhalt dankbar sein dürfen. Und jede Krise bietet ihre Chance, im Jahr der Ratte ohnehin: Ob Hedgefonds oder Kleininvestor, jeder hat die Chance mitzuspielen. Die ersteren verdienen steuerfrei, die letzteren, wenn sie das Zertifikat A0NAWS kaufen, zahlen ihre Abgeltungssteuer, denn Biodieselsubventionen gibt es nicht umsonst.
[1]
Kompas, 25. Februar 2008, S. A, Urbanisasi sulit dibendung (Urbanisierung schwierig einzudämmen).
[2]
Kompas, 27. Februar 2008, S. C: 1,8 juta penganggur terdidik di Jabar (1.8 Millionen Arbeitslose erhalten Training in Westjava).
[3]
Kompas, 28. Februar 2008, S. J: Petani mendesak agar harga gabah dinaikkan (Bauern machen Druck für steigende Preise für Reis).
[4]
Kompas, 9. März 2008, S. 2: Data BPS tentang kemiskan.
[5]
Kompas, 9. März, 2008, S. 4: 4.000 RT sangat miskin di DKI dapat bantuan (4000 sehr arme Haushalte erhalten Hilfe in Jakarta).
[6]
Heri Susanto, Melesat minus tenaga kerja (Wachstum ohne Arbeitskräfte), Tempo, 9. März 2008, S. 70-71.
[7]
Klaus Stratmann, Unionspolitiker wollen Biodiesel retten, Handelsblatt, 14. März 2008, S. 6.
[8]
„Die Rallye geht weiter“, Interview, Wirtschaftswoche Nr. 10, 3. März 2008, Agrarrohstoffe: Die längste Rallye der Geschichte.
[9]
In NZZ am Sonntag, zitiert nach Le Monde, 30. März 2008, S. 13.
[10]
Kompas, 29. Februar 2008, S. 26: Minyak goreng mencapai Rp. 13.750 per kg (Öl zum Braten und Kochen erreicht 13,750 Rupiah pro kg).
[11]
Yann Rousseau, Inflation: Pékin annonce de nouvelles aides pour ses paysans, Les Echos, 31. März 2008, S. 11.