Dienstag, 29. Januar 2008

Totgesagte leben länger Nintendogs (I): von 5 bis 95

Update 4.Februar 2008

http://www.1101.com/miyamoto/index.html


28.1. 2008 Kazue Haga & Jochen Röpke

Wir skizzieren in diesem Blog (Nintendogs I) die wirtschaftliche Seite der Innovationen von Nintendo. In einem zweiten, Blog (Nintendo II), spekulativer angelegt, gehen wir auf die demographisch-psychische Seite der Nintendoneuerungen ein. Am 24. Januar meldet Bloomberg: Jan. 24 (Bloomberg) -- Nintendo Co., the world's biggest maker of handheld game players, reported nine-month profit almost doubled after its Wii console outsold Sony Corp.'s PlayStation 3 and Microsoft Corp.'s Xbox 360.

Net income climbed to 258.9 billion yen ($ 2.4 billion/Milliarden) in the nine months ended Dec. 31, from 131.9 billion yen a year earlier, the Kyoto, Japan-based company said in a statement today. Sales rose 85 percent to 1.32 trillion yen. Jan. 24 (Bloomberg) -- Nintendo Co., the world's biggest maker of handheld game players, reported nine-month profit almost doubled after its Wii console outsold Sony Corp.'s PlayStation 3 and Microsoft Corp.'s Xbox 360.

Net income climbed to 258.9 billion yen ($2.4 billion) in the nine months ended Dec. 31, from 131.9 billion yen a year earlier, the Kyoto, Japan-based company said in a statement today. Sales rose 85 percent to 1.32 trillion yen.[1]
Der Markt für Videospiele und Spielgeräte („Konsolen“), war, gemessen an Umsatz- und Gewinnwachstum, nahezu tot. Sony macht heute noch Verluste in dieser Sparte. Microsoft dito.[Korrektur: „Sony meldet erstmals schwarze Zahlen mit Playstation“. Was nicht jeder mann glaubt. „Die Kunden bevorzugen jedenfalls weiterhin die viel simplere Konsole Wii.Sony mußte seine Verkaufserwartungen auf 9,5 Millionen Playstation 3 herunterschrauben"][16].Nintendo, eine ausschließlich im Videospielgeschäft tätiges Unternehmen, könnte im laufenden Geschäftsjahr 3.5 Mrd. Dollar netto verdienen. Wie ist das möglich?

Die Zielgruppe der Konsolenproduzenten und Entwickler von Spielen schien erschöpft. Dafür gibt es drei Gründe:[2] Die Spiele sind überspezialisiert entwickelt und zu kompliziert für Anfänger, so daß es immer weniger neue Kunden gibt. Die Zahl potentieller Kunden (junge Leute) aufgrund des Alterns der Gesellschaften immer mehr ab. Drittens schränkt das Design des Steuergeräts die Inhalte der Spiele ein, so daß keine wirklich neue Art zu spielen konstruiert werden kann. Trotz dieser Einschränkungen steigen die Entwicklungskosten ständig.

In den Jahren 2006/7 hat Nintendo den Markt neu aufgemischt, bisher nicht existente Absatz- und Wertschöpfungspotentiale erschlossen: durch Neudefinition der Zielgruppe (das gesamte Alters/Geschlechterspektrum) durch Entwicklung neuer Konsolen, durch neue Spiele. Beispiel Frankreich. Absatz von Nintendokonsolen 2007 mehr als eine Million (30 Millionen in Japan, USA, Europa). Früher kauften Konsolen und Spiele junge Leute männlichen Geschlechts. Jetzt, in Frankreich: 40 Prozent der Videospieler sind Frauen und 11 Prozent der Spieler sind älter als 50 Jahre[3] - früher nahezu nicht existente Kunden. Vom Kinderplayer zum Altenbeglücker.

Was Nintendo neu macht: die Hardware läßt sich intuitiv bedienen und reagiert auf Körperbewegungen der Spieler; genauso wichtig die neuen Inhalte der Videospiele. Sie treten neben die bekannten, auf Unterhaltung zielenden Videospiele für die traditionale Kundschaft (überwiegend junge Menschen).Noch wichtiger: die Spiele ermöglichen Interaktion der Spieler: mit anderen Spielern, mit dem eigenen Körper und Gehirn, mit Tieren. Es sind somit „Interaktionssysteme“.
Was bedeutet wii? Man erkennt es, wenn man es wörtlich auf Englisch ausspricht: we. Wir. Wii ist die Nintendoisierung von we.


Beispiele für neue „Spiele“ (oftmals mehr als Spiele):

  • Nintendogs (Youtube-Link): Spielen mit Hunden, streicheln, Hunde spielen lassen
  • Dr. Kawashimas Gehirntraining (Dieses Spiel ist bemerkenswert, weil es zeigt, wie sich Erkenntnisse der Gehirnforschung, die des japanischen Forschers Ryuta K., spielerisch in die Lebenspraxis übertragen lassen, kein knowing-doing-gap also: Forschungsleistungen aus der Wissenschaft laufen ohne Umweg in das Hirn der Menschen).
  • Yoga
  • Augengymnastik
  • Heimtrainer
  • Fitnessprogramme
  • Vieles mehr in Vorbereitung


Umsatz 2007 von Nintendo in den USA

Nintendo Tops Gaming Market in 2007 The Wallstreet Journal


Die neu geschaffene Nachfrage ist so groß, daß Nintendo mit der Produktion nicht nachkommt.[4] Menschen stehen Schlange (Bild: Beispiel USA). In den Nintendofabriken in China wird in zwei Schichten gearbeitet und die Konsolen mit Flugzeugen in die Absatzmärkte transportiert. Nintendos Erfolg verweist den Musikmarkt, ohnehin durch Raubkopien im Internet angeschlagen, auf den zweiten Rang. [5]

Quelle


Wohl niemand, außer die Musikmanager, leiden in diesem Fall unter schöpferischer Zerstörung. Nintendos Gewinne und Aktienkurs explodier(t)en. Die Marktkapitalisierung ist nach der von Toyota die größte in Japan. Die innovative Neukonstruktion des Spielemarktes durch Nintendo zwingt Sony und Microsoft, den beiden anderen Player auf diesem Markt, schöpferisch auf Nintendos Neukombinationen zu reagieren, um dem Schicksal der Zerstörung zu entgehen. Sony reagiert, senkt die Preise für neue Maschinen und gewinnt Marktanteile zurück.[6] Innovation bewirkt Innovation. Nintendo übt in diesem Fall nur ausgleichende Gerechtigkeit. Durch den Einstieg von Sony und Microsoft in den Videospielemarkt verlor Nintendo Marktanteile, machte Verluste und Übernahmegeier kreisen über dem Hauptquartier in Kyoto. Wäre Nintendo eine US- oder UK-Firma gewesen: Aufkauf. Assetverkauf. Zero innovation. Game over. Enduring freedom für Wallstreet und Robber Barons. Da in Japan andere „Spielregeln“ (A. Merkel) gelten,[7] erlebt Nintendo, mit neuer Führung, eine Wiedergeburt. Nintendo kopiert nicht Sony und Microsoft. Die Firma schafft einen neuen Markt. Selten für etablierte Firmen, aber es läßt sich machen, auch wenn die Wissenschaft noch nicht erklären kann, wie man es schafft.

Strategien der Verjüngung etablierter Unternehmen sind schwierig zu standardisieren. Für jedes Unternehmen gibt es angesichts der Komplexität der Einflußfaktoren ein eigenes Rezept. Dennoch versucht sich der Nintendo-Chef, Satoru Iwata mit einem Hinweis: Eine Lösung ist etwas, was mehrere Probleme auf einmal löst. Eine Maßnahme, die nur ein Problem löst aber oft dann andere neue Probleme hervorbringt, ist keine Lösung. Auf die Kunden zu hören ist auch nicht die Superlösung, denn Kundenreklamationen zielen oft nicht auf das eigentliche Problem.[8] Wenn ein Auto zu teuer ist, ist das vielleicht nicht das Problem des Preises, sondern ihm fehlen Funktionen, die Kunden haben wollen. Der Preis ist für so ein „mangelhaftes“ Auto unangemessen „hoch“.

Die Schaffung eines neuen Marktes durch Integration von neuen Zielgruppen (Familien, alte Menschen, das gesamte Alterspektrum) in das Geschäftsmodell, neuen Spielen und interaktiv arbeitender Hardware (Konsolen: Wii) ist aufs engste mit einer neuen Führung verknüpft, bei Nintendo Satoru Iwata, früher Chef einer auch für Nintendo arbeitenden Softwarefirma. „Neue Männer schaffen neue Märkte“ (Schumpeter). Wir ergänzen: Alte führen ihre Unternehmen in den Ruin (wenn sie keine Investmentbanker für M&A anheuern und viele Dols[9] auf den Tisch legen).



Quelle: The Economist[10]


„Wir fragen die Öffentlichkeit nicht, was wollt ihr eigentlich haben. Der Schlüssel unserer Strategie liegt darin, Ideen zu haben, auf die potentielle Kunden nicht kommen.“ [11] Dies ist reiner Schumpeter. Die Einführung radikaler Neuerungen richtet sich nicht nach den bestehenden Bedürfnissen der Kunden, sie schafft neue oder bislang nicht artikulierte.[12] Deswegen funktioniert Marketing hier auch nicht – wie auch Iwata (siehe das folgende Interview) und Miyamoto deutlich machen. Nintendo inszenierte eine potentiell destruktive Interaktion. Sie „verstörte“ nicht nur die Marktteilnehmer. Sie könnte sie auch zerstören, „schöpferisch“. Die Konkurrenten antworten schöpferisch, durch eigene Innovationen. Zunächst Sony (PS3), mit größerer Verzögerung (Xbox 360).

Quelle

Frage: Wie schaffte Nintendo den Durchbruch? Nintendo-Präsident Satoru Iwata (siehe obiges Bild)

Auch innerhalb Nintendos hat es Diskussionen gegeben, als wir gesagt haben: Wir machen Spiele für Menschen von fünf bis 95. Da können Sie Marktforschung machen, so viel Sie wollen: Ob es klappt, sehen Sie erst, wenn Sie es gemacht haben. Außerdem: Von 2002 bis 2004 haben wir ja nur Marktanteile verloren – da glaubt Ihnen doch keiner, dass gerade Sie jetzt die irre gute Idee haben. Drei Jahre lang haben wir gepredigt, aber niemand hat uns geglaubt. Also mussten wir es vormachen. Jetzt springen immer mehr auf den Zug auf. Nintendogs Braintraining oder Wii Sports haben neue Zielgruppen erreicht. Aber es geschah gegen alle Regeln der Branche.

Frage: Wie weit kann die Integration in die Familie gehen?

Wir wenden uns an alle Familienmitglieder und wollen speziell die Mütter und Großeltern ansprechen. Was wäre da geeigneter, als ein „Gesundheitspaket“ zu schnüren? Da haben wir das „Balance Board“ mit der eingebauten Waage entwickelt. Aber da nicht jeder sich immer wiegen und „gesunde Sachen“ machen will, haben wir noch Spiele dazugepackt.[13] Hat eine schumpeter-daoistische Einsicht den Markt gerettet? Der weise Mann (Unternehmer) hält nicht fest, bleibt jedoch seinen Wurzeln (Kernkompetenzen) verbunden. Er wendet sich immer in neue Richtungen. Er beginnt sein unternehmerisches Leben erneut im Nichtsein.[14] Was Nintendo zu leisten vermochte, schaffen die meisten Organisationen nicht. Das neue Management, insbesondere CEO Satoru Iwata, versetzen Nintendo in eine Gründungssituation: Erschließen neuer Märkte mit neuen Produkten – jenseits der Erkenntnisse der Marktforscher (siehe Interview). Der Führungswechsel ist hier ein funktionales Äquivalent für radikale Innovation, normalerweise der komparative Vorteil neuer Unternehmen. Nintendo gelingt diese Verjüngung – aus alt-alt wird jung-alt.

Kurs Nintendo, in Euro, Börse Berlin, 6. Dezember 2007 Marktkapitalisierung 60 Mrd. Euro


Unseren Lesern empfehlen wir einen Blick auf die japanische Homepage von Nintendo. Präsentiert sich so ein 60 Mrd. Euro-Konzern? Anscheinend, wer Geld verdien will.

Totgesagt leben länger. Seien es Unternehmen, seien es Menschen mit hohem Alter. Beides wirkt bei Nintendo zusammen. Nintendo wird deswegen weiter florieren (siehe Börsenkursentwicklung), weil es, unsere Behauptung, Produkte entwickelt, die auch Menschen bereits hohen Alters noch länger leben läßt, somit eine Kategorie von alten mitgeschaffen wird, die wir junge Alte nennen. Der Markt expandiert durch selbstgeschaffene Marktexpansion. Da die Alten („Senioren“, chronologisch „Greise“)die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe ist, vermag die japanische Firma (und potentielle Imitatoren) den demographischen Wandel als Goldgrube zu erschließen. Was machen mit den Alten? Betreuungsstützpunkte? Amerikaner (und Japaner) versuchen es auch mit Nintendo.

Activities range from cognitive games for dementia patients. The Foundation for Senior Living, a Catholic charity in Phoenix, is installing Nintendo Wii videogame consoles to entertain attendees and keep their minds and bodies active.[15] Wir empfehlen dieses Vorgehen auch den von schöpferischer Zerstörung ihrer Firmen bedrohten CEOs, Investmentbankern ohnehin. Was tun? Für die Alten? Wäre Siemens Nintendo, wäre schon lange Praxis, was wir vorschlagen: Jedermann, auf der Pflegestufe I, würde mit Wii ausgestattet. Rollenspiele gegen Einsamkeit, Dr. K. et al. gegen Demenz, vieles mehr gegen Verrottung des Körpers. Viele der alten Mitbürger, die jetzt in Pflege II und III mutieren, bliebe dieses Schicksal möglicherweise erspart und träte Jahre später ein. Reines win-win. Sogar diejenigen im System Politik gewönnen Stimmen, Macht, Ansehen, die es schafften, so etwa durchzusetzen. Und wenn das läuft, kommt eine zweite Welle: Roboter, wieder von Siemens sprich Toyota. Wie dies funktioniert, schildern wir, rechtzeitig vor Eintritt in Pflege I, in einem weiteren Blog.

[1] Pavel Alpeyev, Nintendo nine-month net income almost doubles on Wii (update1), Bloomberg.
[2] Akihiro Sato(2007), Game-nics toha nanika [Was ist Gamenics?], Tokio, Gentosha, S. 77.
[3]
Yannick Roudaut, Décollage vertical dans les jeux vidéo, Le Monde, 16. Dezember 2007, S. 3 (Argent).
[4]
Sönke Iverson, Am Puls der Spieler, Handelsblatt, 1. Dezember 2007, S. 18.
[5]
Ducourtieux, Cecile, Les ventes de jeux vidéos égalent celles de musique, Le Monde, 25. Dezember, S. 14.
[6]
Mike Firn & Hiroshi Suzuki, Sony playstation 3 Europe sales climb on price cut (Update 1), Bloomberg.com, 21. Januar 2008,
[7] Siehe unseren Blog vom 31. Juli 2007: Is greed good for Japan?
[8]
Ttoi, Shigesato & Iwata, Satoru (2007): Nintendo Iwai Satoru Shacho to Itoi Shigesato ga hanasu [Nintendo-Präsident, Satoru Iwata spricht mit Shigesato Iwai.],
[9] 1 Dol = 1 Mio. Dollar (Investmentbanker/Hedgefonds-Sprache).
[10]
The Economist, World of dealcraft, 6. Dezember 2007,
[11] Zitiert in Angela Köhler, Frische Truppen, Handelsblatt.com, 26. Januar 2006,
[12]
Nachweis von Schumpeterzitaten bei Röpke & Xia, Reisen in die Zukunft kapitalistischer Systeme, 2007, 8. Kapitel.
[13]
Aus einem Interview im Handelsblatt vom 30. Juli 2007 mit Satoru Iwata. “Niemand hat uns geglaubt”
[14] Röpke & Xia, Reisen, S.
[15]
Jeff D. Opdyke, Finding day care – for your parents, The Wall Street Journal, 10. Januar 2008, S. D1,
[16]
Handelsblatt, 1. Februar 2008, S. 14: Sony senkt die Preise in den USA.

Donnerstag, 17. Januar 2008

Die Dividende der Langlebigkeit
15.1.07
Addendum 19.1. 2007 Kazue Haga & Jochen Röpke

Menschen leben länger und der Anteil alter Menschen an der Gesamtbevölkerung steigt. Wie ist das geschehen? Menschlicher Einfallsreichtum in Wissenschaft, Medizin und Gesundheitswesen bewirkten Interventionen in die biologischen Systeme von Menschen, welche ihre Überlebenszeit durch Hinausschieben des Todes kontinuierlich steigert (drei Monate pro Jahr). Damit ist erstmals in der Geschichte der Lebewesen ein neues Phänomen entstanden: Altern von Populationen (nicht nur einzelner Menschen). Wir transformieren in eine neue Welt chronologisch alter Menschen. Dieser Transformationsprozeß ist begleitet von zahlreichen Problemen und Verwerfungen, welche Beobachter in Wissenschaft, Medien und Politik eine insgesamt „negative“ Bewertung angedeihen lassen: mit dem Alter steigen Gebrechlichkeit und chronische Krankheiten, die Gesundheitskosten nehmen überproportional zu, die sozialstaatlichen Systeme, konzipiert in einer Welt vor der demographischen Transformation, kommen mit den Herausforderungen nur mühsam zurecht, Altersarmut greift um sich,[1] ein Abschmelzen (meltdown) von Vermögenswerten setzt ein, weil die Alten Kasse machen müssen (wenn sie welche haben: Probleme Riester-Rente und Abgeltungsteuer), um ihr Leben zu bezahlen, Wachstumsdynamik verringert sich (in Japan bis zur Jahrhundertmitte auf Null).
Was läßt sich machen? Eine Dividende der Langlebigkeit erzeugen. Wie? Durch medizinische Innovation, getragen von Erkenntnissen der Wissenschaft. Anti-aging medicine. Diese verfügt über zwei Dimensionen. Die erste: die gesunde Lebensspanne ausweiten. Die zweite: die Ursachen des biologischen Alterns aufdecken und in medizinische Innovation übertragen. Beide Dimensionen überschneiden sich. Die erste führt fort, was schon läuft und wesentlich zur demographischen Transformation beitrug. Die zweite ist visionären Charakter und mündet, zu Ende gedacht in menschliche „Unsterblichkeit“ (was nicht hieße: kein Tod. Tödliche Unfälle gibt es weiterhin, Selbstmorde auch, Kriege sowieso).
Wir skizzieren hier nur die erste Seite und stützen uns dabei auf Überlegungen von S. Jay Olshansky und anderen Autoren der „longevity dividend“. [2]
Ihre Logik ist einfach: Den Menschen in den modernen Industriestaaten ist es gelungen ist, ihre Lebensspanne kontinuierlich auszuweiten. Einige von ihnen, noch wenige, verwirklichen eine dramatische Ausweitung ihres Lebens, weitgehend ohne Krankheiten. Olshansky und Kollegen vermuten daher: die Gene, welche sich mit einer gesunden Ausweitung der Lebensspanne „assozieren“ lassen, existieren bereits im menschlichen Genom; andere formulieren noch härter: „Unsere Gene sind in praktisch in allen anderen Tieren jenseits von Bakterien ähnlich“ - was den genetischen Einfluß auf die Lebensspanne angeht. Entscheidend ist, welche Gene wir „an- und ausschalten.“[3] (Ähnlich wie Politik Innovation ein- uns ausschalten kann: durch Recht, Steuern, Ethik, usf.).
Wer wenig Zeit hat, sich mit der Wissenschaft von all diesem näher zu beschäftigen, sei der Artikel von Rosedale empfohlen!
Die Wissenschaft hat zudem in den letzten Jahren so gewaltige Fortschritte gemacht, daß „die Ausweitung der Dauer des menschlichen Lebens durch Verlangsamung der Prozesses des Alterns ein wissenschaftliche plausibles Ziel ist, und eine ausreichende finanzielle Förderung zu dramatischen Fortschritten in der Präventivmedizin und dem öffentlichen Gesundheitswesen innerhalb der nächsten Jahrzehnte führt“ (Olshansky u.a., 2006, 2007). … we envision a goal that is realistically achievable: a modest deceleration in the rate of aging sufficient to delay all aging-related diseases and disorders by about seven years. This target was chosen because the risk of death and most other negative attributes of aging tends to rise exponentially throughout the adult lifespan with a doubling time of approximately seven years (Olshansky, 2006). Diese Fortschritte bewirken nun nicht, daß ein Mensch insgesamt viel länger leben kann als bisher angenommen (Ausweitung der maximalen Lebensspanne) - dies würde erforderlich machen, die Ursachen des Alterns gezielt zu bekämpfen, was Olshanshky et al. (noch) nicht für möglich halten (hier setzen Visionäre wie Aubrey de Grey, Robert Freitas, Ray Kurzweil an: siehe hierzu http://www.fightaging.com/).[4] De Grey macht die Unterschiede klar, Unterschiede, die man in Gesundheitsforschung und – politik nicht macht: The traditional gerontological approach to life extension is to try to slow down this accumulation of damage. This is a misguided strategy, firstly because it requires us to improve biological processes that we do not adequately understand, and secondly because it can even in principle only retard aging rather than reverse it. An even more short-termist alternative is the geriatric approach, which is to try to stave off pathology in the face of accumulating damage; this is a losing battle because the continuing accumulation of damage makes pathology more and more inescapable.[5] Olshansky und Kollegen sehen folgendes kommen: die Zone von Mortalität und Morbidität bis zum Eintritt des Todes läßt sich verkürzen. Die zeitliche Spanne eines gesunden Altwerdens weitet sich damit aus. Natürlich kommen die Gesundheitsprobleme, aber komprimiert, auf ganz wenige Jahre beschränkt. Nehmen wir an, die Lebensspanne eines Menschen ließe sich mit einer Vielzahl medizinischer Interventionen auf 110 Jahre ausweiten. Dennoch leidet er an Gebrechlichkeit und chronischen Krankheiten. Müßte er selbst dafür aufkommen, sein Kapital würde aufgezehrt. Er lebt eine prekäre Existenz. Permanent krank, aber er lebt. Andererseits:
„Alternsinterventionen verfügen über ein Potential, daß kein operativer Eingriff, keine Verhaltensänderung oder Heilung (cure) für irgendeine fatale Krankheit erreichen könnte: extend youthful, vigor throughout the life span.“ Wie angedeutet, müssen wir trennen zwischen Heilung (curing) und Behandlung (treatment). Olshansky und die Biogerontologie einschließlich ihrer medizinischen Sparte beschäftigen sich mit Behandlung. Der Prozeß des Alterns wird nicht „besiegt“, vielmehr Krankheiten des Alterns behandelt. Darauf zielt die „Dividende“: Länger gesünder leben, Menschen länger jünger machen. Für sieben Jahre. Ein weiteres Plus: eine beträchtliWche Einsparung an Behandlungskosten. Wenn wir diesen Weg nicht gehen, so Olshansky u.a. , erschlagen uns die Gesundheitskosten. Beispiel Alzheimer: 1000 Mrd. Dollar im Jahr 2050, gegenüber 80-100 Mrd. heute (Olshansky ua., 2006). Beispiel Parkinson. Gegenwärtig keine wirksame Medikament verfügbar.[6] Ganz ähnlich die Lage bei Herzkreislauferkrankungen, Diabetis, Krebs und anderen „alters-bezogenen Problemen“. Die kranke Phase vor dem Tod ließe sich, wenn wir die medizinische Innovation tatkräftig fördern, auf wenige Jahre beschränken. Die Menschen lebten gesünder, „in jugendlicher Frische“. Die Krankheitskosten wären bescheiden. Zudem – was Olshansky u.a. nicht thematisieren: die „Behandlungs“-Forschung strahlt in jene Bereiche, die sich mit der Heilung des Alterns beschäftigen: also eine Sonderausschüttung, wenn nicht Gratisdividende, nicht für 7 Jahre, für Jahrzehnte. Ein Rückkaufprogramm für das Leben.
„Die Komprimierung von Morbidität und Mortalität auf eine kürzere Zeitdauer am Lebensende würde uns die Zahlung beträchtlicher gesundheitlicher und finanzieller Dividenden erlauben, Dividenden zudem, die sich noch erhöhen würden, da neue Generationen von den bestehenden und zunehmenden technologischen Fortschritten Vorteile erzielen.“ All dies verdanken wir also der Entschleunigung („slowing down“) des Alterns beziehungsweise seiner Komprimierung auf wenige Lebensjahre anstelle eines lange währenden Siechtums (Pflegeheimexistenz: Pflegestufe 3).
Menschen könnten zudem länger produktiv arbeiten. Sie könnten länger sparen und investieren. Wir vermuten auch: ihre Risikoneigung würde steigen, sie würden also länger in Vermögensklassen wie Aktien investieren, welche eine höhere Rendite abwerfen (in Japan ist dieses bereits zu beobachten).
Was die Autoren nicht ansprechen (wiederum getragen von einer skeptischen Einstellung konservativ argumentierender Biogerentologen): Eine gesunde Lebensverlängerung ist auch ohne die Olshansky-Neuerungen möglich: 14 Jahre länger Leben, wurde ermittelt.[7] Beispiel Diabetis und andere chronische Krankheiten des Alterns: Der Lebensstil macht den großen Unterschied. Nicht umsonst sagt der Daoismus seit 2000 Jahren: über 80 Prozent der Krankheiten sind ernährungsbedingt. Leider ist solches schwieriger zu praktizieren als sich vom Arzt behandeln zu lassen. Daß der Staat, sowie er im Augenblick die Gesundheit reguliert, daran wenig Interesse hat, scheint auf der Hand zu liegen. Prävention im schwierigen Bereich von Lebensstilinnovationen ist nicht seine Sache. 14 Jahre länger Rente/Pension, Gesundheit bezahlen!
Im Grunde ist all dies nicht überraschend und auch nicht neu - wenn wir innovationslogisch argumentieren und Neuerungen als primäre Quelle der Entwicklung und des Lebensstandards betrachten. Andererseits ist die Umsetzung dieser Logik extrem voraussetzungsreich. Insbesondere die Gesundheitspolitik würde gefordert.

Unsere Argumentation zusammenfassend:

Alte Gesellschaften sind reiche Gesellschaften


Ergänzung 19.1.08

In der obigen Zeichnung „fehlt“ die Rückkopplung von Einkommen auf Wissenschaft. Eine alte arme Gesellschaft kann sich keine Wissenschaft leisten. Eine Wissenschaft, die nicht in ein Innovationssystem eingebunden ist, verarmt die Gesellschaft und macht den demographischen Wandel tendenziell zu einem, in dem Menschen länger krank leben. Der untere Teil der Abbildung fällt aus.
Komplizierter gesagt heißt das: die „Autopoiese“ des Innovationssystems stirbt. Es vermag nicht mehr, oder nur auf niedrigem Niveau, sich selbst zu erzeugen und zu erhaltend. Das System verliert an endogener Energie. Was könnte solches bewirken?

  • Die Pharmaindustrie bekommt die biomedizinischen Neuerungen nicht auf die Reihe;
  • Staat blockiert und/oder zementiert die Lücke zwischen Wissen und Tun (Knowing-Doing-Gap);

Weder Unternehmen noch Staat nach Teile der Wissenschaft übernehmen Langzeitverantwortung (kurzer Zeithorizont); Durchwursteln. Kritik von De Grey[8]: The traditional gerontological approach to life extension is to try to slow down this accumulation of damage. This is a misguided strategy, firstly because it requires us to improve biological processes that we do not adequately understand, and secondly because it can even in principle only retard aging rather than reverse it. An even more short-termist alternative is the geriatric approach, which is to try to stave off pathology in the face of accumulating damage; this is a losing battle because the continuing accumulation of damage makes pathology more and more inescapable.
  • Religion und Medien inszenieren Diskurse, welche Radikalinnovationen ausbremsen (Beispiel: Stammzellen);
  • Für Wissenschaft ist anti-aging-research keine Angelegenheit, die es zu fördern gilt: “… up until very recently aging research has been conducted by an extremely conservative research community. In effect, the older half of the community has been active or complicit in suppressing exploration, expansion and application.”[9]

Kurz gesagt: die Teilsysteme der Gesellschaft, alle, n und ihre Interaktion bewirken eine „Abgeltungssteuer“ auf die Dividende, die Investitionen in die Erzeugung der Dividende uninteressant machen.

[1]„Experten prophezeien düstere Renten-Zukunft“, Spiegelonline, 14. Januar 2008.
[2]
S. Jay Olshansky und andere, In Pursuit of the Longevity Dividend: What Should We Be Doing To Prepare for the Unprecedented Aging of Humanity? Scientist, Ausgabe 20, 2006, S. 28-36; Olshansky u.a, Pursuing the longevity dividend. Annals of the New York Academy of Science, vol. 1114, Oktober 2007, Seite 11-13.
[3]
Ron Rosedale, Insulin, leptin, diabetes, and aging: not so strange bedfellows, Diabetes Health, 13. Januar 2008..
[4]
Zur Kritik siehe Ronald Bailey, Is Living Longer Worth It? Pursuing the longevity dividend at Transvision 2007 in Chicago, reasononline, 24. Juli 2007.
[5]

[6]
“The mainstay drug, levadopa, is 40 years old, and merely addresses the symptoms of Parkinson's. No drug is available to slow the progress of Parkinson's disease, which affects 6 million people worldwide. The National Institutes of Health spends $200 million a year on Parkinson's research, but scientists still don't know what causes the disease” (Kerry A. Dolan, Andy Grove Puts Millions Into Parkinson's Fight, Forbes.com, 10. Januar 2008.)
[7]
Kay-Tee Khaw, Nicholas Wareham, Sheila Bingham, Ailsa Welch, Robert Luben, Nicholas Day (2008): Combined Impact of Health Behaviours and Mortality in Men and Women: The EPIC-Norfolk Prospective Population Study, Plos Medicine, 8. Januar.
[8]
Fight aging, 3. Januar 2008, http://www.fightaging.org/archives/001386.php
[9]
http://www.longevitymeme.org/newsletter/view_newsletter.cfm?newsletter_id=247 (14. Januar, 2008).

Donnerstag, 10. Januar 2008

Game over?

Jochen Röpke
10. Januar 2008

Eine der wenigen Journalisten, die Einsichten jenseits der medial eingespielten ökonomischen Paradigmen zu Papier bringen, ist Wolfgang Münchau, Kolumnist der Financial Times (Deutschland und UK). Sein jüngster Beitrag: „Ein letztes gutes Jahr“.[1] Der Beitrag ist auch – indirekt, nicht offen ausgesprochen, das machen Kollegen von ihm in der FTD – eine Abrechnung mit dem ökonomischen Denken, welches in Medien und Politik Anschluß gesucht und gefunden hat und die Politik weitgehend prägt, wenn die Ökonomen auch immer sagen: warum nicht mehr „Reformen“, warum hört ihr denn nicht auf uns usf. Auf das Hören, was nichts bringt aber selbstverständlich das „Richtige“ ist?
Der „Aufschwung“ geht zu Ende, einer, der wie Wolfgang Münchau sagt, nicht mehr(ist), „als ein etwas spät eingetretener zyklischer Boom nach altem Muster.“ Das „deutsche Wachstumsmodell“ kommt in die Jahre, nur wenige Jahre, nachdem es leben durfte, nach Jahren der Stagnation. Niedrige Löhne plus Exportwachstum (emerging economies, Rohstoffländer), plus Psychologie (DAX-Boom), plus erhaltende Innovation in auslaufenden Basisinnovationen, immerfort gefährdet von den Aufholern aus Fernost (daher noch mehr Kaufkraftverzicht).
„Reformen“ sind an all dem nur marginal beteiligt. Steigen jetzt – endlich – die Löhne, auch wenn nur etwas stärker als die Inflationsrate, gibt es sofort Wachstumsärger, weil die Wettbewerbspositionen der deutschen Unternehmen in zunehmend in Gefahr gerät: Marginalanbieter fliegen raus, dann werden die Produkt- und Technologiezyklen von hinten aufgerollt – und vorne kommt nichts nach. Dazu kommt der „Linksruck“, Rückdrehen von Reformen, was wir – im Gegensatz von Münchau – nicht als großes Problem sehen. Das Problem ist vielmehr, daß „die wirklich wichtigen Reformen“ – Münchau nennt: Privatisierung des öffentlichen Bankensektors (weniger ein Problem für uns) und der Universitäten, Öffnung von Handwerk und Dienstleistungen, mehr Wettbewerb im Energiesektor … auf lange Zeit nicht kommen“. Der politische Linksruck verhindert solches nach Münchau.
Die Arbeitnehmer haben ihr Aufschwungopfer gebracht, ein Altruismus-Oktroi, Unternehmens- und Staatskassen gefüllt. Schön, wenn Hoffnung auf steigende Kaufkraft in der Zukunft bestünde. Wo soll diese aber herkommen, nach dem herrschenden Paradigma? Hier bleibt die Zukunft düster. Stagnation forever. Reformen: Radikaler Umbau der Staatsausgaben (Hans Werner Sinn hat Vorschläge gemacht), was nach unserer Einschätzung einen Rückgang der Staatsquote um mindestens zehn Prozentpunkte vom BIP möglich macht, Rückzug aus Intervention (auch humanitären), Freiheit für das Humankapital (jeder Arbeit so lange er will), grundlegend aber, so auch Münchau: nicht „Altes erhalten und … entwickeln, sondern Neues … schaffen.“ Und hier hapert es in grandioser Weise, wie wir tagtäglich, als Universitätsmenschen beobachten. Forschung, Forschung, Forschung, noch mehr Forschung, Exzellenzinitiativen. Was soll das bringen außer „Marskanälen“ (Schumpeter), wenn das Wissen, wie in Deutschland normal, „tot“ bleibt, nicht in Neukombinationen, insbesondere radikale einfließt. Und diese machen nicht Daimler (Dank sei Autokanzler/rin für ihre Unterstützung in Brüssel und sonstwo)und Thyssen, und andere DAX-Highflyer, sondern neue Unternehmen und Unternehmer, viele davon akademisch-wissenschaftlich. Bisher gibt es weder in Theorie noch Praxis Erkenntnisse, welche neues Unternehmertum als notwendige Bedingung von Wohlfahrtsschaffung ersetzen könnten. China und jetzt Indien fahren mehrere Kondratieffs (lange Wellen, Basisinnovationen) gleichzeitig. Deutschland keinen. Wir leben zunehmend von der Dynamik anderer Regionen, weil wir keine eigene erzeugen können.
Es ist uns ein Rätsel, wie auch heute noch, „Analysten“ Aktienempfehlungen für oben genannte und viele andere Unternehmen aussprechen können, wenn aus einer langfristigen Sicht der Tod dieser Unternehmen, ceteris paribus, nicht aufzuhalten ist. Wo ist der Einstieg von VW in die Roboter- oder Nanotechnologie? Was zu tun ist, ist, wenn wir das „Neue zu schaffen“ tatsächlich, in allen Teilsystemen der Gesellschaft angehen, ist eigentlich klar. (Wir haben vor der letzten Bundestagswahl einen Beitrag „Wenn Schumpeter Kanzler würde“ geschrieben, in dem wir Vorschläge unterbreitet haben). Schauen wir in Grundsatzprogramme von Parteien, etwa dem jüngsten der CDU, sind alle „Stichwörter“ aufgelistet. Vision? Prioritäten? Zeitplan? Es geht, wie immer, um das Tun, das Umsetzen, das Einbinden in das Visionäre, welches die Bürger, mittragen könnten. Wenn wir Münchau glauben schenken und der „Theorie“, die hinter all dem steht, was wir hier schreiben, wäre das, was auf uns zukommt, plusminus Null. Was auch kein Problem ist. Andere Nationen sind Jahrzehnte, sogar Jahrhunderte damit zurecht gekommen.
BIOS-logisch[2] liegt das Potentialwachstum Deutschlands bei maximal zwei Prozent (der EU-Chefvolkswirt errechnete noch vor kurzem 1 %). Nach den hier vorgestellten Überlegungen gibt es keinen theoretischen Grund, warum das Potential nicht bei 5 oder mehr Prozent liegen könnte. Im Dezember gewinnt Lee Myung-bak, vormals CEO von Hyundai Engineering, die Wahl zum Staatspräsidenten in Südkorea. Drei Zahlen prägen seine Vision: „747“: 7 (jährliche Wachstumsrate; 2006 = 4.9 %); 4 (40,000 Dollar Pro-Kopf-Einkommen – 2006: 12,300); 7 (siebter Rang in der Hierarchie der Weltökonomien).

Eine Vision für Deutschland: 3, 4, 100.
Drei Prozent Wachstum des realen PKE p.a., 4 Prozent Arbeitslosigkeit, durchschnittliche Lebenserwartung 100 Jahre.

Unmöglich? Wie schaffen? Fragen wir die Topberater der Regierung: Schwachsinn. Fragen wir den Sachverständigenrat (Graf Lambsdorff: „Auflösen!“): Blödsinn. Fragen wir Zhuangzi: [3] Man kann vom Meere nicht zu einem Brunnenfrosch sprechen, er sieht nicht über sein Loch hinaus. Man kann vom Eis nicht zu einer Sommerfliege sprechen: sie weiß nur ihre Jahreszeit. Man kann vom Dao nicht zu einem Fachidioten sprechen: er ist in seiner Lehre eingemauert. Nun hast du dich hinausgewagt über deine Gestade, um einen Blick zu werfen auf den großen Ozean, und hast deine eigene Ärmlichkeit erkannt: Deshalb kann man dir von der Großen Ordnung erzählen. Fragen wir Barack Obama, der Kanzlerin Merkels geistige Schwester (?) Hillary Clinton (Vorwurf: Du predigts nur „Hoffnung“ , wir sagen „Vision“, du lebst außerhalb der „Realität“ usf.; zu den Clintons: Chapman[4]) kontert: “I have been teased and even derided for using the word ‘hope’,” he says. “But we are America. We don’t need leaders telling us what we cannot do. We need leaders who can inspire us to achieve things. Did you hear JFK [President Kennedy] saying: ‘You know this moon thing, it looks too far’?”[5] Wir kennen keinen theoretischen Grund, warum „3-4-100“ nicht ginge. Die Praxis ist eine andere. Kant hat das Problem benannt: „Daß zwischen der Theorie und Praxis noch ein Mittelglied der Verknüpfung und des Übergangs von der einen zur anderen erfordert werde, die Theorie mag auch noch so vollständig sein, wie sie wolle, fällt in die Augen.“ Die „Mittelglieder der Verknüpfung“!! Um mit Wolfgang Münchau zu schließen: „Somit steckt Deutschland tatsächlich in einer [politischen] Strukturkrise.“

[1]
Financial Times Deutschland, 9. Januar, 2008.
[2]
BIOS = Basic Input Output System
[3]
Daoistischer Poet und Philosoph, 369-286 v. C.
[4]
Steve Chapman, The latest version of Hillary Clinton, reason online, 10. Januar 2008.
[5]
Zitiert in: Edward Luce, Obama confident as New Hampshire votes, The Financial Times, 8. Januar 2008.

Neujahrsgrüße von Nikolas Sarkozy


Jochen Röpke

10. Januar 2008[1]


Betrachtet man, was Politik macht, ist man an John Maynard Keynes erinnert: Löcher aufreißen und zuschütten. Und dies mit voller „Energie und Herz“, wie der französische Präsident Nikolas Sarkozy in seiner Neujahrsanspruche 2008 versichert. Die französischen „Baustellen“ (chantiers) – hierzulande als Projekte oder Reformvorhaben bezeichnet - denen sich die Regierung widmet (Le Figaro, 1.1. 2008, S. 5), dienen teilweise der Renovierung von zerfallenden Gebäuden (Ausbildung, Universitäten, Justiz), überwiegend der Reparatur vom politischen System bewirkter Fehlentwicklungen. Sarkozy ist angetreten, um das Baustellenmanagement zu übernehmen: „Ich bin da, um Frankreich zu verändern, und ich werde es tun.“

In Deutschland das Gleiche, fast, da das Föderalsystem unterschiedliche politische Antworten auf Probleme erlaubt, die, falls sie schief liegen, nicht die ganze Nation in Mitleidenschaft ziehen. In Frankreich fliegt nur ein Ballon über die Landschaft, überbeladen, mit Steuern und Vorschriften für alles was kreucht und fleucht. Die Staatsdiener tun ihre Pflicht. 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sind schließlich zu verwalten. Daß sie für diesen Herkulesjob gut entlohnt, früh pensioniert und mit Urlaub reichlich ausgestattet sein müssen – eine solidarische Selbstverständlichkeit. Mitte Januar legt die Attali-Kommission, besetzt mit 43 Personen, vom Präsidenten berufen, ihren Bericht zur „Befreiung des Wachstums“ vor (Wir werden darüber berichten. Einige Vorschläge sickern durch[2]). Französische Baustellen („Reformen“): Beschäftigung (35 Stunden pro Woche, Luxusurlaub, Jugendarbeitslosigkeit); Sozialstaat (Rente, Pension, insbesondere bei staatsnahen Organisationen wie Eisenbahnen, Energie), Immigration (schluckt mehr und mehr Geld, macht mehr und mehr Ärger: Aufstände und Wohnrechte in den Vorstädten), Wirtschaft (Schwachwachstum, stagnierende Kaufkraft, Innovationsarmut), Gesundheit. Es wird interessant sein zu lesen, was Attali zur Befreiung der Universitäten sagt (unverzichtbar, um in einer unternehmerischen Wissensgesellschaft nicht noch weiter an Boden zu verlieren), oder zur Finanzierung der Renten und Pensionen, deren durch Abgaben nicht gedeckter Anteil im Jahr 2050 rund 100 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erreichen könnte (unter realistischen Annahmen)[3] oder zur Problemlage französischer Unternehmer, die gerade noch rechtzeitig für Attalis Schlußredaktion in einem Bericht aufgearbeitet ist.[4] Dennoch, für die „politische Klasse“ (Standardbeschreibung des politischen Systems in Frankreich) ein „virtuous circle“, wie Keynes für die Konjunkturpolitik behauptet: Löcher aufreißen bringt Stimmen, Löcher zuschütten bringt wieder Stimmen. Die Ressourcen für die Baustellenökonomie kommen von den Bürgern (Steuern, Staatsverschuldung).

Beispiel für eine Baustelle und für uns als Innovations- und Evolutionslogiker von besonderem Interesse. Josette Elayi hat den Mut, ihren Arbeitsgeber den Lesern des Figaro zum Neujahrsbeginn als „einen Kadaver“ vorzustellen.[5] Sie geht mit einer der Toporganisationen der französischen Forschung, CNRS (Centre national de la recherche scientifique), hart ins Gericht, untermauernd, was oben skizziert wurde. Im Jahre 1939 gegründet, arbeiten in der französischen Forschungsorganisation 31700 Menschen, davon 25 000 „Funktionäre“ (Beamte). Die Organisation ist gewerkschaftlich durchorganisiert und scheint in jeder Hinsicht ein Denkmal von Ineffizienz und Unwirksamkeit. Jeder „Forscher“ dient seinen Partikularinteressen, eine Überprüfung und Kritik der Leistungen findet, so Frau Elayi, nicht statt, wir vermuten auch, wofür die links-wirtschaftsfeindliche Einstellung der Mitarbeiter spricht (das gleiche Bild an Universitäten und Schulen): Umsetzung der Forschungsleistungen in die Wirtschaft, insbesondere durch Ausgründungen, marginal. Gazellen sind in Frankreich – wie auf dem afrikanischen Kontinent – eine vom Aussterben bedrohte Tierart: „Gazellen“ (David Birch) sind innovative, junge, schnell wachsende Unternehmen, verantwortlich für einen Großteil der netto neu geschaffenen Arbeitsplätze.

Ein Prozent der französischen KMU gelten als Gazellen.[6] In den USA ist der Anteil der Gazellen drei Prozent. Und in China? Fünf bis sechs Prozent Von den französischen Neugründungen (Jahr 2006) sind 40 Prozent Kinder der Not und nicht chancenorientiert. Vier von fünf Neugründungen haben keinen zusätzlichen Arbeitsplatz geschaffen. Weniger als fünf Prozent sind in einem „secteur innovant“ tätig.[7]

Kein Wunder, daß Franzosen mit Wehmut „Outre Rhin“ (Jenseits des Rheins) blicken, wo sie feststellen: auch die Allemands haben Probleme mit Gazellen, aber sie schaffen es, die Löhne so wenig wachsen zu lassen, Kaufkraftstagnation zu akzeptieren, daß sie mit dieser Strategie, dank sei dem Sachverständigenrat, ihre Exportweltmeisterschaft verteidigen können. Aber mehr Geld auf dem Konto jedes Franzosen, ist der große Versprecher von Nikolas Sarkozy. Mit den Staatsbeamten fängt es. Zumindest erhalten sie einen Kaufkraftverlustausgleich, bedingt durch die Inflation.[8] Als Nichtfreund der Europäischen Zentralbank steht ihm auch die Merkeloption nicht zur Verfügung, den inflationsbedingten Kaufkraft/Vermögensverlust (Angela Merkel: „perfideste Form der Enteignung“ [9]) von der Regierung an die EZB auszulagern. Ein Vorschlag wäre, mit einer Revision der Schulbücher anzufangen.[10] Entrepreneur ist dort ein Fremdwort, und George W. Bush hat Recht: die Franzosen haben kein Wort (im Schulbuch) für „entrepreneur“. Auch die Deutschen nicht, „chère Angela“ (Sarkozy) in ihren Schulbüchern – Gott sei Dank eine Angelegenheit der Länder.


[1]
Hakahori verfolgt für uns die französische Innovationsdynamik. Er ist noch in seiner Heimat. Daher unsere Kommentierung.
[2]
Le rapport de la commission Attali sera centré autour de vingt mesures phares, Les Echos, 7. Januar 2008.
[3]
Jaques Delpla, De l’application du principe de precaution à la réforme des retraites, Les Echos, 3. Januar 2008, S. 11.
[4]
François Hurel, Rapport à Monsieur Hervi Novelli … en faveur d’une meilleure reconnaissance du travail independent, 10. Januar 2008.
[5]
Quel avenir pour le CNRS? Le Figaro, 1. Januar 2008, S. 11.
[6]
Peggy Hollinger: France sets free its ‘gazelles’, The Financial Times, 19. Oktober 2006, S. 11. Wie Hollinger des weiter berichtet, bleiben die Gefängnisse, in die Gazellen eingesperrt sind, so gut bewacht, daß sie es vorziehen, nicht auszubrechen. Siehe Hollinger, Growth pains inhibit French business, The Financial Times, 7. Dezember 2007, S. 6.
[7]
Sarah Piovezan, La création d’entreprise, une stratégie pour sortir du chômage, Le Monde, Economie, 18. Dezember 2007, S. VII.
[8]
Lucie Robequain, Fonctionnaires: les syndicats hostiles à la garantie individuelle de salaire, Les Echos, 18. Dezember 2007, s. 4.
[9]
Inflation vermiest Einzelhandel das Geschäft, Spiegel Online, 28. November 2007.
[10]
Stefan Theil, Europe’s school books demonise enterprise, The Financial Times, 7. Januar 2008 .