Donnerstag, 10. Januar 2008

Game over?

Jochen Röpke
10. Januar 2008

Eine der wenigen Journalisten, die Einsichten jenseits der medial eingespielten ökonomischen Paradigmen zu Papier bringen, ist Wolfgang Münchau, Kolumnist der Financial Times (Deutschland und UK). Sein jüngster Beitrag: „Ein letztes gutes Jahr“.[1] Der Beitrag ist auch – indirekt, nicht offen ausgesprochen, das machen Kollegen von ihm in der FTD – eine Abrechnung mit dem ökonomischen Denken, welches in Medien und Politik Anschluß gesucht und gefunden hat und die Politik weitgehend prägt, wenn die Ökonomen auch immer sagen: warum nicht mehr „Reformen“, warum hört ihr denn nicht auf uns usf. Auf das Hören, was nichts bringt aber selbstverständlich das „Richtige“ ist?
Der „Aufschwung“ geht zu Ende, einer, der wie Wolfgang Münchau sagt, nicht mehr(ist), „als ein etwas spät eingetretener zyklischer Boom nach altem Muster.“ Das „deutsche Wachstumsmodell“ kommt in die Jahre, nur wenige Jahre, nachdem es leben durfte, nach Jahren der Stagnation. Niedrige Löhne plus Exportwachstum (emerging economies, Rohstoffländer), plus Psychologie (DAX-Boom), plus erhaltende Innovation in auslaufenden Basisinnovationen, immerfort gefährdet von den Aufholern aus Fernost (daher noch mehr Kaufkraftverzicht).
„Reformen“ sind an all dem nur marginal beteiligt. Steigen jetzt – endlich – die Löhne, auch wenn nur etwas stärker als die Inflationsrate, gibt es sofort Wachstumsärger, weil die Wettbewerbspositionen der deutschen Unternehmen in zunehmend in Gefahr gerät: Marginalanbieter fliegen raus, dann werden die Produkt- und Technologiezyklen von hinten aufgerollt – und vorne kommt nichts nach. Dazu kommt der „Linksruck“, Rückdrehen von Reformen, was wir – im Gegensatz von Münchau – nicht als großes Problem sehen. Das Problem ist vielmehr, daß „die wirklich wichtigen Reformen“ – Münchau nennt: Privatisierung des öffentlichen Bankensektors (weniger ein Problem für uns) und der Universitäten, Öffnung von Handwerk und Dienstleistungen, mehr Wettbewerb im Energiesektor … auf lange Zeit nicht kommen“. Der politische Linksruck verhindert solches nach Münchau.
Die Arbeitnehmer haben ihr Aufschwungopfer gebracht, ein Altruismus-Oktroi, Unternehmens- und Staatskassen gefüllt. Schön, wenn Hoffnung auf steigende Kaufkraft in der Zukunft bestünde. Wo soll diese aber herkommen, nach dem herrschenden Paradigma? Hier bleibt die Zukunft düster. Stagnation forever. Reformen: Radikaler Umbau der Staatsausgaben (Hans Werner Sinn hat Vorschläge gemacht), was nach unserer Einschätzung einen Rückgang der Staatsquote um mindestens zehn Prozentpunkte vom BIP möglich macht, Rückzug aus Intervention (auch humanitären), Freiheit für das Humankapital (jeder Arbeit so lange er will), grundlegend aber, so auch Münchau: nicht „Altes erhalten und … entwickeln, sondern Neues … schaffen.“ Und hier hapert es in grandioser Weise, wie wir tagtäglich, als Universitätsmenschen beobachten. Forschung, Forschung, Forschung, noch mehr Forschung, Exzellenzinitiativen. Was soll das bringen außer „Marskanälen“ (Schumpeter), wenn das Wissen, wie in Deutschland normal, „tot“ bleibt, nicht in Neukombinationen, insbesondere radikale einfließt. Und diese machen nicht Daimler (Dank sei Autokanzler/rin für ihre Unterstützung in Brüssel und sonstwo)und Thyssen, und andere DAX-Highflyer, sondern neue Unternehmen und Unternehmer, viele davon akademisch-wissenschaftlich. Bisher gibt es weder in Theorie noch Praxis Erkenntnisse, welche neues Unternehmertum als notwendige Bedingung von Wohlfahrtsschaffung ersetzen könnten. China und jetzt Indien fahren mehrere Kondratieffs (lange Wellen, Basisinnovationen) gleichzeitig. Deutschland keinen. Wir leben zunehmend von der Dynamik anderer Regionen, weil wir keine eigene erzeugen können.
Es ist uns ein Rätsel, wie auch heute noch, „Analysten“ Aktienempfehlungen für oben genannte und viele andere Unternehmen aussprechen können, wenn aus einer langfristigen Sicht der Tod dieser Unternehmen, ceteris paribus, nicht aufzuhalten ist. Wo ist der Einstieg von VW in die Roboter- oder Nanotechnologie? Was zu tun ist, ist, wenn wir das „Neue zu schaffen“ tatsächlich, in allen Teilsystemen der Gesellschaft angehen, ist eigentlich klar. (Wir haben vor der letzten Bundestagswahl einen Beitrag „Wenn Schumpeter Kanzler würde“ geschrieben, in dem wir Vorschläge unterbreitet haben). Schauen wir in Grundsatzprogramme von Parteien, etwa dem jüngsten der CDU, sind alle „Stichwörter“ aufgelistet. Vision? Prioritäten? Zeitplan? Es geht, wie immer, um das Tun, das Umsetzen, das Einbinden in das Visionäre, welches die Bürger, mittragen könnten. Wenn wir Münchau glauben schenken und der „Theorie“, die hinter all dem steht, was wir hier schreiben, wäre das, was auf uns zukommt, plusminus Null. Was auch kein Problem ist. Andere Nationen sind Jahrzehnte, sogar Jahrhunderte damit zurecht gekommen.
BIOS-logisch[2] liegt das Potentialwachstum Deutschlands bei maximal zwei Prozent (der EU-Chefvolkswirt errechnete noch vor kurzem 1 %). Nach den hier vorgestellten Überlegungen gibt es keinen theoretischen Grund, warum das Potential nicht bei 5 oder mehr Prozent liegen könnte. Im Dezember gewinnt Lee Myung-bak, vormals CEO von Hyundai Engineering, die Wahl zum Staatspräsidenten in Südkorea. Drei Zahlen prägen seine Vision: „747“: 7 (jährliche Wachstumsrate; 2006 = 4.9 %); 4 (40,000 Dollar Pro-Kopf-Einkommen – 2006: 12,300); 7 (siebter Rang in der Hierarchie der Weltökonomien).

Eine Vision für Deutschland: 3, 4, 100.
Drei Prozent Wachstum des realen PKE p.a., 4 Prozent Arbeitslosigkeit, durchschnittliche Lebenserwartung 100 Jahre.

Unmöglich? Wie schaffen? Fragen wir die Topberater der Regierung: Schwachsinn. Fragen wir den Sachverständigenrat (Graf Lambsdorff: „Auflösen!“): Blödsinn. Fragen wir Zhuangzi: [3] Man kann vom Meere nicht zu einem Brunnenfrosch sprechen, er sieht nicht über sein Loch hinaus. Man kann vom Eis nicht zu einer Sommerfliege sprechen: sie weiß nur ihre Jahreszeit. Man kann vom Dao nicht zu einem Fachidioten sprechen: er ist in seiner Lehre eingemauert. Nun hast du dich hinausgewagt über deine Gestade, um einen Blick zu werfen auf den großen Ozean, und hast deine eigene Ärmlichkeit erkannt: Deshalb kann man dir von der Großen Ordnung erzählen. Fragen wir Barack Obama, der Kanzlerin Merkels geistige Schwester (?) Hillary Clinton (Vorwurf: Du predigts nur „Hoffnung“ , wir sagen „Vision“, du lebst außerhalb der „Realität“ usf.; zu den Clintons: Chapman[4]) kontert: “I have been teased and even derided for using the word ‘hope’,” he says. “But we are America. We don’t need leaders telling us what we cannot do. We need leaders who can inspire us to achieve things. Did you hear JFK [President Kennedy] saying: ‘You know this moon thing, it looks too far’?”[5] Wir kennen keinen theoretischen Grund, warum „3-4-100“ nicht ginge. Die Praxis ist eine andere. Kant hat das Problem benannt: „Daß zwischen der Theorie und Praxis noch ein Mittelglied der Verknüpfung und des Übergangs von der einen zur anderen erfordert werde, die Theorie mag auch noch so vollständig sein, wie sie wolle, fällt in die Augen.“ Die „Mittelglieder der Verknüpfung“!! Um mit Wolfgang Münchau zu schließen: „Somit steckt Deutschland tatsächlich in einer [politischen] Strukturkrise.“

[1]
Financial Times Deutschland, 9. Januar, 2008.
[2]
BIOS = Basic Input Output System
[3]
Daoistischer Poet und Philosoph, 369-286 v. C.
[4]
Steve Chapman, The latest version of Hillary Clinton, reason online, 10. Januar 2008.
[5]
Zitiert in: Edward Luce, Obama confident as New Hampshire votes, The Financial Times, 8. Januar 2008.

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