Donnerstag, 17. Januar 2008

Die Dividende der Langlebigkeit
15.1.07
Addendum 19.1. 2007 Kazue Haga & Jochen Röpke

Menschen leben länger und der Anteil alter Menschen an der Gesamtbevölkerung steigt. Wie ist das geschehen? Menschlicher Einfallsreichtum in Wissenschaft, Medizin und Gesundheitswesen bewirkten Interventionen in die biologischen Systeme von Menschen, welche ihre Überlebenszeit durch Hinausschieben des Todes kontinuierlich steigert (drei Monate pro Jahr). Damit ist erstmals in der Geschichte der Lebewesen ein neues Phänomen entstanden: Altern von Populationen (nicht nur einzelner Menschen). Wir transformieren in eine neue Welt chronologisch alter Menschen. Dieser Transformationsprozeß ist begleitet von zahlreichen Problemen und Verwerfungen, welche Beobachter in Wissenschaft, Medien und Politik eine insgesamt „negative“ Bewertung angedeihen lassen: mit dem Alter steigen Gebrechlichkeit und chronische Krankheiten, die Gesundheitskosten nehmen überproportional zu, die sozialstaatlichen Systeme, konzipiert in einer Welt vor der demographischen Transformation, kommen mit den Herausforderungen nur mühsam zurecht, Altersarmut greift um sich,[1] ein Abschmelzen (meltdown) von Vermögenswerten setzt ein, weil die Alten Kasse machen müssen (wenn sie welche haben: Probleme Riester-Rente und Abgeltungsteuer), um ihr Leben zu bezahlen, Wachstumsdynamik verringert sich (in Japan bis zur Jahrhundertmitte auf Null).
Was läßt sich machen? Eine Dividende der Langlebigkeit erzeugen. Wie? Durch medizinische Innovation, getragen von Erkenntnissen der Wissenschaft. Anti-aging medicine. Diese verfügt über zwei Dimensionen. Die erste: die gesunde Lebensspanne ausweiten. Die zweite: die Ursachen des biologischen Alterns aufdecken und in medizinische Innovation übertragen. Beide Dimensionen überschneiden sich. Die erste führt fort, was schon läuft und wesentlich zur demographischen Transformation beitrug. Die zweite ist visionären Charakter und mündet, zu Ende gedacht in menschliche „Unsterblichkeit“ (was nicht hieße: kein Tod. Tödliche Unfälle gibt es weiterhin, Selbstmorde auch, Kriege sowieso).
Wir skizzieren hier nur die erste Seite und stützen uns dabei auf Überlegungen von S. Jay Olshansky und anderen Autoren der „longevity dividend“. [2]
Ihre Logik ist einfach: Den Menschen in den modernen Industriestaaten ist es gelungen ist, ihre Lebensspanne kontinuierlich auszuweiten. Einige von ihnen, noch wenige, verwirklichen eine dramatische Ausweitung ihres Lebens, weitgehend ohne Krankheiten. Olshansky und Kollegen vermuten daher: die Gene, welche sich mit einer gesunden Ausweitung der Lebensspanne „assozieren“ lassen, existieren bereits im menschlichen Genom; andere formulieren noch härter: „Unsere Gene sind in praktisch in allen anderen Tieren jenseits von Bakterien ähnlich“ - was den genetischen Einfluß auf die Lebensspanne angeht. Entscheidend ist, welche Gene wir „an- und ausschalten.“[3] (Ähnlich wie Politik Innovation ein- uns ausschalten kann: durch Recht, Steuern, Ethik, usf.).
Wer wenig Zeit hat, sich mit der Wissenschaft von all diesem näher zu beschäftigen, sei der Artikel von Rosedale empfohlen!
Die Wissenschaft hat zudem in den letzten Jahren so gewaltige Fortschritte gemacht, daß „die Ausweitung der Dauer des menschlichen Lebens durch Verlangsamung der Prozesses des Alterns ein wissenschaftliche plausibles Ziel ist, und eine ausreichende finanzielle Förderung zu dramatischen Fortschritten in der Präventivmedizin und dem öffentlichen Gesundheitswesen innerhalb der nächsten Jahrzehnte führt“ (Olshansky u.a., 2006, 2007). … we envision a goal that is realistically achievable: a modest deceleration in the rate of aging sufficient to delay all aging-related diseases and disorders by about seven years. This target was chosen because the risk of death and most other negative attributes of aging tends to rise exponentially throughout the adult lifespan with a doubling time of approximately seven years (Olshansky, 2006). Diese Fortschritte bewirken nun nicht, daß ein Mensch insgesamt viel länger leben kann als bisher angenommen (Ausweitung der maximalen Lebensspanne) - dies würde erforderlich machen, die Ursachen des Alterns gezielt zu bekämpfen, was Olshanshky et al. (noch) nicht für möglich halten (hier setzen Visionäre wie Aubrey de Grey, Robert Freitas, Ray Kurzweil an: siehe hierzu http://www.fightaging.com/).[4] De Grey macht die Unterschiede klar, Unterschiede, die man in Gesundheitsforschung und – politik nicht macht: The traditional gerontological approach to life extension is to try to slow down this accumulation of damage. This is a misguided strategy, firstly because it requires us to improve biological processes that we do not adequately understand, and secondly because it can even in principle only retard aging rather than reverse it. An even more short-termist alternative is the geriatric approach, which is to try to stave off pathology in the face of accumulating damage; this is a losing battle because the continuing accumulation of damage makes pathology more and more inescapable.[5] Olshansky und Kollegen sehen folgendes kommen: die Zone von Mortalität und Morbidität bis zum Eintritt des Todes läßt sich verkürzen. Die zeitliche Spanne eines gesunden Altwerdens weitet sich damit aus. Natürlich kommen die Gesundheitsprobleme, aber komprimiert, auf ganz wenige Jahre beschränkt. Nehmen wir an, die Lebensspanne eines Menschen ließe sich mit einer Vielzahl medizinischer Interventionen auf 110 Jahre ausweiten. Dennoch leidet er an Gebrechlichkeit und chronischen Krankheiten. Müßte er selbst dafür aufkommen, sein Kapital würde aufgezehrt. Er lebt eine prekäre Existenz. Permanent krank, aber er lebt. Andererseits:
„Alternsinterventionen verfügen über ein Potential, daß kein operativer Eingriff, keine Verhaltensänderung oder Heilung (cure) für irgendeine fatale Krankheit erreichen könnte: extend youthful, vigor throughout the life span.“ Wie angedeutet, müssen wir trennen zwischen Heilung (curing) und Behandlung (treatment). Olshansky und die Biogerontologie einschließlich ihrer medizinischen Sparte beschäftigen sich mit Behandlung. Der Prozeß des Alterns wird nicht „besiegt“, vielmehr Krankheiten des Alterns behandelt. Darauf zielt die „Dividende“: Länger gesünder leben, Menschen länger jünger machen. Für sieben Jahre. Ein weiteres Plus: eine beträchtliWche Einsparung an Behandlungskosten. Wenn wir diesen Weg nicht gehen, so Olshansky u.a. , erschlagen uns die Gesundheitskosten. Beispiel Alzheimer: 1000 Mrd. Dollar im Jahr 2050, gegenüber 80-100 Mrd. heute (Olshansky ua., 2006). Beispiel Parkinson. Gegenwärtig keine wirksame Medikament verfügbar.[6] Ganz ähnlich die Lage bei Herzkreislauferkrankungen, Diabetis, Krebs und anderen „alters-bezogenen Problemen“. Die kranke Phase vor dem Tod ließe sich, wenn wir die medizinische Innovation tatkräftig fördern, auf wenige Jahre beschränken. Die Menschen lebten gesünder, „in jugendlicher Frische“. Die Krankheitskosten wären bescheiden. Zudem – was Olshansky u.a. nicht thematisieren: die „Behandlungs“-Forschung strahlt in jene Bereiche, die sich mit der Heilung des Alterns beschäftigen: also eine Sonderausschüttung, wenn nicht Gratisdividende, nicht für 7 Jahre, für Jahrzehnte. Ein Rückkaufprogramm für das Leben.
„Die Komprimierung von Morbidität und Mortalität auf eine kürzere Zeitdauer am Lebensende würde uns die Zahlung beträchtlicher gesundheitlicher und finanzieller Dividenden erlauben, Dividenden zudem, die sich noch erhöhen würden, da neue Generationen von den bestehenden und zunehmenden technologischen Fortschritten Vorteile erzielen.“ All dies verdanken wir also der Entschleunigung („slowing down“) des Alterns beziehungsweise seiner Komprimierung auf wenige Lebensjahre anstelle eines lange währenden Siechtums (Pflegeheimexistenz: Pflegestufe 3).
Menschen könnten zudem länger produktiv arbeiten. Sie könnten länger sparen und investieren. Wir vermuten auch: ihre Risikoneigung würde steigen, sie würden also länger in Vermögensklassen wie Aktien investieren, welche eine höhere Rendite abwerfen (in Japan ist dieses bereits zu beobachten).
Was die Autoren nicht ansprechen (wiederum getragen von einer skeptischen Einstellung konservativ argumentierender Biogerentologen): Eine gesunde Lebensverlängerung ist auch ohne die Olshansky-Neuerungen möglich: 14 Jahre länger Leben, wurde ermittelt.[7] Beispiel Diabetis und andere chronische Krankheiten des Alterns: Der Lebensstil macht den großen Unterschied. Nicht umsonst sagt der Daoismus seit 2000 Jahren: über 80 Prozent der Krankheiten sind ernährungsbedingt. Leider ist solches schwieriger zu praktizieren als sich vom Arzt behandeln zu lassen. Daß der Staat, sowie er im Augenblick die Gesundheit reguliert, daran wenig Interesse hat, scheint auf der Hand zu liegen. Prävention im schwierigen Bereich von Lebensstilinnovationen ist nicht seine Sache. 14 Jahre länger Rente/Pension, Gesundheit bezahlen!
Im Grunde ist all dies nicht überraschend und auch nicht neu - wenn wir innovationslogisch argumentieren und Neuerungen als primäre Quelle der Entwicklung und des Lebensstandards betrachten. Andererseits ist die Umsetzung dieser Logik extrem voraussetzungsreich. Insbesondere die Gesundheitspolitik würde gefordert.

Unsere Argumentation zusammenfassend:

Alte Gesellschaften sind reiche Gesellschaften


Ergänzung 19.1.08

In der obigen Zeichnung „fehlt“ die Rückkopplung von Einkommen auf Wissenschaft. Eine alte arme Gesellschaft kann sich keine Wissenschaft leisten. Eine Wissenschaft, die nicht in ein Innovationssystem eingebunden ist, verarmt die Gesellschaft und macht den demographischen Wandel tendenziell zu einem, in dem Menschen länger krank leben. Der untere Teil der Abbildung fällt aus.
Komplizierter gesagt heißt das: die „Autopoiese“ des Innovationssystems stirbt. Es vermag nicht mehr, oder nur auf niedrigem Niveau, sich selbst zu erzeugen und zu erhaltend. Das System verliert an endogener Energie. Was könnte solches bewirken?

  • Die Pharmaindustrie bekommt die biomedizinischen Neuerungen nicht auf die Reihe;
  • Staat blockiert und/oder zementiert die Lücke zwischen Wissen und Tun (Knowing-Doing-Gap);

Weder Unternehmen noch Staat nach Teile der Wissenschaft übernehmen Langzeitverantwortung (kurzer Zeithorizont); Durchwursteln. Kritik von De Grey[8]: The traditional gerontological approach to life extension is to try to slow down this accumulation of damage. This is a misguided strategy, firstly because it requires us to improve biological processes that we do not adequately understand, and secondly because it can even in principle only retard aging rather than reverse it. An even more short-termist alternative is the geriatric approach, which is to try to stave off pathology in the face of accumulating damage; this is a losing battle because the continuing accumulation of damage makes pathology more and more inescapable.
  • Religion und Medien inszenieren Diskurse, welche Radikalinnovationen ausbremsen (Beispiel: Stammzellen);
  • Für Wissenschaft ist anti-aging-research keine Angelegenheit, die es zu fördern gilt: “… up until very recently aging research has been conducted by an extremely conservative research community. In effect, the older half of the community has been active or complicit in suppressing exploration, expansion and application.”[9]

Kurz gesagt: die Teilsysteme der Gesellschaft, alle, n und ihre Interaktion bewirken eine „Abgeltungssteuer“ auf die Dividende, die Investitionen in die Erzeugung der Dividende uninteressant machen.

[1]„Experten prophezeien düstere Renten-Zukunft“, Spiegelonline, 14. Januar 2008.
[2]
S. Jay Olshansky und andere, In Pursuit of the Longevity Dividend: What Should We Be Doing To Prepare for the Unprecedented Aging of Humanity? Scientist, Ausgabe 20, 2006, S. 28-36; Olshansky u.a, Pursuing the longevity dividend. Annals of the New York Academy of Science, vol. 1114, Oktober 2007, Seite 11-13.
[3]
Ron Rosedale, Insulin, leptin, diabetes, and aging: not so strange bedfellows, Diabetes Health, 13. Januar 2008..
[4]
Zur Kritik siehe Ronald Bailey, Is Living Longer Worth It? Pursuing the longevity dividend at Transvision 2007 in Chicago, reasononline, 24. Juli 2007.
[5]

[6]
“The mainstay drug, levadopa, is 40 years old, and merely addresses the symptoms of Parkinson's. No drug is available to slow the progress of Parkinson's disease, which affects 6 million people worldwide. The National Institutes of Health spends $200 million a year on Parkinson's research, but scientists still don't know what causes the disease” (Kerry A. Dolan, Andy Grove Puts Millions Into Parkinson's Fight, Forbes.com, 10. Januar 2008.)
[7]
Kay-Tee Khaw, Nicholas Wareham, Sheila Bingham, Ailsa Welch, Robert Luben, Nicholas Day (2008): Combined Impact of Health Behaviours and Mortality in Men and Women: The EPIC-Norfolk Prospective Population Study, Plos Medicine, 8. Januar.
[8]
Fight aging, 3. Januar 2008, http://www.fightaging.org/archives/001386.php
[9]
http://www.longevitymeme.org/newsletter/view_newsletter.cfm?newsletter_id=247 (14. Januar, 2008).

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