Freitag, 8. Februar 2008

Vom Leben und Sterben im Kalorienkapitalismus

7. 2. 2008

Haga Kazue & Jochen Röpke


Die Menschen in den westlichen Industrieländern, allen, fast, werden fetter und fetter. Übergewicht hat gravierende gesundheitliche Probleme und belastet die Produktivität in Unternehmen und das Gesundheitssystem in zunehmendem Maße. All dies können wir als bekannt voraussetzen. Was tun?

„Das Wissen über gesunde Ernährung muß gestärkt werden“, überschreibt das Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz“ [1] die Veröffentlichung einer zweiten „Nationale Verzehrstudie“. [2]Wir könnten auch sagen: Kalorienstudie. Die Deutschen essen zu viel, ein Schicksal, welches sie mit allen wohlhabenden Ländern teilen.

Das Schlüsselergebnis der Untersuchung (siehe auch die folgende Abbildung): „In Deutschland sind 66,0% der Männer und 50,6 % der Frauen übergewichtig oder adipös“. [3]

Übergewicht speist sich aus zwei Quellen: mehr Kalorienaufnahme, weniger Bewegung . Wir wissen:[4] Der Anstieg von Fettleibigkeit und Übergewichtigkeit ist primär, in den reifen Industriestaaten, eine Folge des Überkonsums von Kalorien, weniger einer Abnahme von körperlicher Tätigkeit (physical activity; exercise). Ergebnis: eine „obesity epidemic“. In der nächsten Abbildung (figure 5) fehlt Deutschland. Nehmen wir die Schweiz oder die Niederlände als ähnlich gelagerte Länder: 100 Prozent der Gewichtszunahme geht auf Kalorienzufuhr („calories in“) zurück. Australien und Finnland scheinen aus dem Rahmen zu fallen, aber nur, weil ihre Statistiken Ungereimtheiten aufweisen, wie Bleich u.a. zeigen.




Quelle: FAZ, 31.1.2008



Quelle: Bleich u.a. (2008).

Die nächste Abbildung zeigt die jährliche Zunahme der Übergewichtigkeit in der Bevölkerung in Prozent. Hier gibt es auch Informationen zu Deutschland. Es befindet sich im Mittelfeld, mit rund 0.35 Prozent für die Jahre 1999-2003. Die geringste Gewichtszunahme finden wir in Japan, beinahe Null. Das in diesem Land, insbesondere auf der Insel Okinawa (“the world's longest-lived people),[5] die meisten Menschen, bezogen auf die Gesamtpopulation, mit einem Alter über 100 Jahre leben, ist daher auch keine Überraschung.



Quelle: Bleich u.a. (2008)

Was hat diese Zunahme bewirkt? (a) Nahrungsmittel sind relativ billiger geworden; die technische Effizienz in der Nahrungsmittelindustrie ist gestiegen, „technischer Fortschritt“ also; (b) Produkt-Innovationen in der Nahrungsmittelindustrie und deren vor- und nachgelagerten Branchen (von Junkfood über Homeservice für Pizza bis zur riesigen Vielfalt von Killerfood, welche die Nahrungsmittelkonzerne auf den Markt werfen); (c) demographische Wandel: wie auch die deutsche Untersuchung zeigt, sind alte Menschen, von denen es immer mehr gibt, fettleibiger; (d) vermehrte Arbeit von Frauen und damit Änderung der Lebensgewohnheiten.

Sehen wir uns (b) an: Die Industrie kümmert ihre Kalorieninnovation nicht, zudem gute Ausreden bereit stehen; sie verlagert die von ihr produzierten externen Wirkungen (Übergewicht und deren Folgen) auf Individuen und Gesundheitssystem. Klassische soziale Kosten. Wir beobachten somit: Innovationen in Teilen der Nahrungsmittelindustrie schaffen gravierende Gesundheitsprobleme, verringern die individuelle und gesellschaftliche Wohlfahrt. Wäre der Mensch in der Lage, Kalorienaufnahme und –verbrauch zusammen mit Rauchen und Alkohol für sich beherrschbar zu machen, würde sich seine Lebensspanne im Durchschnitt um „14 Jahre“ ausweiten.

[6] Man könnte sagen: Jeder muß doch selbst wissen, was und wieviel er ißt, genauso wie Britney Spears, doch hätte wissen können, als Achtjährige, daß ihre Eltern sie zu einem Star im U$-showbusiness zu machen gedachten.[7] Oh my God. Subprime in der Psychiatrie und Nahrungskonsum. Richtig und falsch. Jeder ist für seine Gesundheit selbst verantwortlich. Jedermann ist jedoch auch in ein System von Werten, Anreizen eingebunden, die sein Verhalten determinieren. Meistens, ohne daß er es weiß bzw. reflektiert. Soziale Instinkte. „Du bist, was du ißt“< (Feuerbach).

„Das Wissen über gesunde Ernährung muß gestärkt werden“. Ist das Wissen unzureichend? Oder die Information? Oder fehlen Daten, wie sie jetzt die „Verzehrsstudie“ vorlegt? Was ist für das „Übergewicht bei Frauen und Männern“ verantwortlich? Unzureichendes Wissen, welche Art von Wissen, explizit oder implizit? Bewirkt nicht gerade das implizite Wissen die in der Abbildung geschilderte Problemlage? Der die Studie in Auftrag gebende Minister erklärt: „ Hier müssen wir uns mehr aufklären und den Bürgerinnen und Bürgern deutlich machen, was sie selbst tun können, um ihre eigene Gesundheit zu fördern und zu erhalten“ Das ist genau der Punkt. Das Wissen ist bei den Menschen überreichlich verfügbar. Deutsche sind keine Pygmäen. Die Menschen wissen auch, daß Übergewicht krank macht und das Leben verkürzt. Warum essen sie dennoch so viel und immer mehr? Und nirgendwo ist Besserwissen mehr verbreitet als beim „Wie“ und „Was“ des Essens. Dennoch nimmt – Ausnahme Japan – die Übergewichtigkeit in allen reichen Ländern zu, in Deutschland pro Jahr um fast einen halben Prozentpunkt. Schön für Ärzte, Kliniken, Erben. Für die Menschen selbst, ein selbstgebuchter Höllentrip mit oder ohne Biokost. Irgendwann und schneller als gedacht, kommt das Last-Minute-Angebot für die Reise ins Jenseits.

Wenn es nicht Wissen ist, und „Aufklärung“, was dann? Nennen wir es „Energie“, noch komplizierter: „evolutorische“ Energie. Die evolutorische Energie der Menschen reicht nicht aus, dem Außendruck durch die Verführungen der Neuerungen aus der Industrie und den Routinen der human-primatoiden „Instinkte“ zu widerstehen. Evolutorische Energie heißt die Kraft sich selbst zu verändern, sich zu evolutionieren (Die folgende Abbildung zeigt die erforderliche Energie in unterschiedlichen Funktionen menschlichen Verhaltens).



Quelle: Röpke & Xia, Reisen in die Zukunft kapitalistischer Systeme, 2007, S. 129.


Es gibt keinen Bereich menschlichen Lebens, in denen der Ausbruch aus der Routine schwieriger ist als beim Essen. Ein im Routinemodus operierendes Individuum vollzieht sein Leben unter Beschränkungen, die es, mangels „Energie“ nicht selbst verändern kann oder will. Wir wissen das aus den reichen Erfahrungen jener, die ihre Essensgewohnheiten umstellen, zurückfallen, es wieder versuchen. Noch eindrücklicher sind die Erfahrungen der Kalorienreduzierer: Wer schafft es schon, mit ständigem Hungergefühl zu leben, obwohl Körper und Geist dadurch aufblühen und bis in ein hohes Alter keinen Schaden nehmen?[8] Wenn ein Mensch Glück hatte, konnte er Gesundheit erben, über seine Gene, über die Erfahrungen seiner Umwelt, seine Eltern. Dabei ist Kalorienreduktion die anscheinend bislang einzige, wissenschaftlich halbwegs nachgewiesene Methode einer gesunden Ausweitung der Lebensspanne von Menschen.[9] Wer Energie in sich erzeugt: er kann 10-mal hinfallen und 11-mal aufstehen. Wer nur das tut, was er immer tut, erreicht auch nur das, was er immer schon getan hat: so zu leben, daß sein Gewicht übergewichtig („adipös“) ist oder wird. Der gleiche alte Weg, die Dinge zu tun, bringt nur die gleichen alten Ergebnisse.

Gelingt der Ausbruch aus der Routine nicht – das System Mensch stirbt. Es stirbt früher – ganze 14 Jahre. Die Erben freut es, den Staat auch (Früher Tod bringt die Rente/den Sozialstaat ins Lot).[10] Der billigste Mensch ist ein toter Mensch. Die Eskimos wußten das schon lange: wer nichts mehr bringt, verbringt sein Leben auf einer Eisscholle – bis er stirbt. Einige nennen es Altersheim, andere den Weg zu Allah. Aber nur auf den ersten, vielleicht auch zweiten, aber immer oberflächlichen Blick. Der große Unterschied: Länger gesünder leben, Menschen länger jünger machen, bringt eine „Dividende der Langlebigkeit“ (siehe unseren Blog vom 15. Januar 2008), die Alles in den Schatten stellt, was ein früher Tod an Entlastungen bringen könnte. Alte gesunde Gesellschaften sind reiche Gesellschaften.

[1] BMELV.de
[2]
Nationale Verzehrstudie II, Ergebnisbericht.
[3]
„Adipös“ scheint das wissenschaftlich-korrekte Wort für „fettleibig“ zu sein. Die Untersuchung „Nationale Verzehrsstudie II“ ist verfügbar unter: Eine gute Zusammenfassung bei Konrad Mrusek, Nationale Verzehrstudie: Nur in Hansestädten kommt es nicht so dick, FAZ, 31. Januar 2008, S. 9.
[4]
Siehe Bleich S. u.a., Why Is the Developed World Obese? Annual Review Public Health. 2008 Jan 3.
[5]
Bradley J. Willcox., u.a. (2007): Caloric Restriction, the Traditional Okinawan Diet, and Healthy Aging: The Diet of the World's Longest-Lived People and Its Potential Impact on Morbidity and Life Span. Ann N Y Acad Sci. 2007 Nov; 1114: S. 434-55.
[6]
Kay-Tee Khaw, Nicholas Wareham, Sheila Bingham, Ailsa Welch, Robert Luben, Nicholas Day (2008): Combined Impact of Health Behaviours and Mortality in Men and Women: The EPIC-Norfolk Prospective Population Study, Plos Medicine, 8. Januar.
[7]
Katja Gelinsky, Der rasende Abstieg einer Pop-Prinzessin, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. 2. 2008, S. 7.
[8]
Longevitymeme.
[9]
Vergleiche neben vielen anderen die jüngste Untersuchung von L. Guarente, Mitochondria-A Nexus for Aging, Calorie Restriction, and Sirtuins?Cell. 2008 Jan 25;132(2):171-176.
[10]
Florian Rötzer, Raucher und Dicke kommen dem Gesundheitssystem billiger, Telepolis, 6. Februar 2008, Heise. Zur von Rötzer vorgestellten Untersuchung siehe die Kommentierung in Future Pundit, 5. Februar 2008.

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