Montag, 19. Januar 2009

Redundanz und der Untergang des Kapitalismus

12. Januar 2009

Kazue Haga & Jochen Röpke

Redundanz ist kommunikativ negativ belegt.[1] Es meint Überflüssiges, Verzichtbares, Nichtbenötigtes, Redundantes eben. Was redundant ist, müssen wir wegmachen, wegkoordinieren, verzichtbar machen. Es verschwendet nur Ressourcen, steht dem Optimieren im Wege, ist mit dem Optimum unvereinbar, ist irrational. Die EU ist unser aller Segen, weil sie dieses leistet.
Politik versucht sich daher in der Koordinierung von Maßnahmen, bloß nichts Redundantes auf den Weg bringen. Parallel laufende Forschungen und Entwicklungen, in Wissenschafts- und Wirtschafts- und Religionssystemen, gelten seit Alters her als suspekt. Verschwendung von Ressourcen im Innovationssystem, laßt uns die Wissenschaft in Exzellenzzentren und Netzwerken koordinieren (danke McKinsey), die Imame sagen ihren Gläubigen: wer Anderes glaubt, als das was der Koran und die mündlichen Überlieferungen des Propheten PUBH sagen (so wie wir ihn konstruieren), muß mit dem Schlimmsten rechnen, den Tod eingeschlossen.
Der Ökonom kultiviert die optimale Allokation, das Gleichgewicht als irdisches Nirwana: ein redundanzloses System. Und ohne Redundanz ist es ein totes System, entwicklungs- und evolutionslos. Betriebswirte und Investmentbanker fördern den Redundanzabbau, wenn sie Aufkäufe und Fusionen als Weg zum Heil der Shareholdervaluemaximierung durchsetzen. Der Sachverständigenrat führt es uns jährlich vor. Biologen beschäftigen sich intensiv mit dem Tod von organischen Systemen. Gehen wir auf den Kern der Sache, sagen sie: nimmt die Redundanz ab, baut der Organismus ab. Im Tod ist der Körper, seiner Redundanz verlustig, wie die Wirtschaft im Gleichgewicht, ohne Leben.[2] Wer Leben will, in jedem System, muß Redundanz zulassen, erhalten, steigern. Redundanzreiche Systeme verschwenden, müssen vom Optimum Abschied nehmen, sogar ihre Homöostase (nach griechisch homoios für ähnlich, gleichartig und stasis für Zustand) überwinden, Homöodynamik kultivieren. Für Ökonomen wie Adam Smith und F.A. Hayek oder Philosophen wie David Hume war das selbstverständlich. Der moderne Ethiker läßt solange den Diskurs pflegen, bis die Redundanz verflüchtigt ist. Die Freiheit auch. Josef S. wußte Bescheid: „Menschen weg, Probleme weg.“ Hayek setzt auf dezentrale Koordination, ein Entdeckungsverfahren: Jeder ist frei zu entdecken, sich anzupassen, zu innovieren, wie er will und kann. Schumpeter bringt die Redundanzlogik auf den Punkt: Ein System - jedes System, nicht nur jedes Wirtschaftssystem, sondern auch jedes andere -, daß zu jedem gegebenen Zeitpunkt seine Möglichkeiten möglichst vorteilhaft ausnützt, kann dennoch auf lange Sicht hinaus einem System unterlegen sein, das dies zu keinem gegebenen Zeitpunkt tut, weil diese seine Unterlassung eine Bedingung für das Niveau oder das Tempo der langfristigen Leistung sein kann. (Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus, Demokratie, 1950, S. 138.) Entwicklung und Gleichgewicht, beides in unserm Sinne genommen, sind also Gegensätze, die einander aus­schließen (Die Theorie wirtschaftlichere Entwicklung, 1911/2006, S. 489). Nahezu alle Unternehmen gehen den Weg biologischer Systeme: vom Leben (durch Innovation) zum Tod (durch schöpferische Zerstörung). „ .. der natürliche Grund [daoistisch: ziran, von selbst so] ist … eben ihre Unfähigkeit, das Tempo der Innovation aufrechtzuerhalten, das sie zur Zeit ihrer Jugendkraft nicht zuletzt durch ihre eigene Mitwirkung gesetzt haben“ (Schumpeter, Konjunkturzyklen, Göttingen, 2008, S. 103). Die Schumpeterzitate machen die Funktion von Redundanz im Leben von Systemen deutlich, sei es gesundheitlich, [3] sei es emotional, sei es kommunikativ. Diese Überforderung des Hörers … kann vermieden werden, wenn Sie zwischendurch immer wieder Redundanz sprechen, also Nachrichten, die der Hörer schon kennt, und die deshalb nicht im Ultrakurzzeitgedächnis abgeprüft werden müssen. Zur Redundanz gehört auch das Wiederholen von bereits Gesagtem mit anderen Worten. Wichtige Nachrichten kann man zwei- bis dreimal wiederholen.[4] Redundanz in der Kommunikation, in der Entwicklung bei Schumpeter, in der Theorie des biologischen Alterns von Organismen, in der Systemtheorie von Niklas Luhmann, schafft Potentialität. Etwas ist überflüssig (zu einem bestimmten Zeitpunkt), gleichzeitig aber auch nicht überflüssig, beim Menschen und seinen Systemen, potentielle Quelle neuer Vielfalt. Das Gehirn des altersverwirrten Menschen und Unternehmens verliert an Redundanz und mit ihr an Möglichkeiten, neue Vielfalt hervorzubringen. Es geht den Weg der Regression oder Involution.
Soviel zur Einleitung. Nunmehr zum Anlaß unseres Blogs, einem Interview von Jordan Mejias mit Nassim Nicholas Taleb[5]. Taleb ist der Erfinder des Schwarzen Schwans – ein Symbol für das Auftreten singulärer Ereignisse großer Tragweite, nicht vorhersehbar, nicht kalkulierbar. Er wendet es auf Investitions- und Anlageentscheidungen an und zeigt, warum Investmentprofessionals so oft daneben liegen (müssen). Die Finanzkrise und der sich noch vollziehende Untergang des „neoliberalen“ Finanzkapitalismus sind nach Taleb Folgen des Wirkens Schwarzer Schwäne.

Taleb in Aktion Auf Youtube

Warum stürzt die Wirtschaft, weltweit, gerade jetzt ab?

Jetzt ist die Wirtschaft abgestürzt. Warum erst jetzt?
Weil auch die Zufälligkeit eine gewisse Struktur hat. Vergleichen Sie nur die Natur und die Finanzwelt. Die Natur ist unbeständig, aber verhält sich insofern artig, als sie ihre Eigenschaft recht schnell offenbart. In der Finanzwelt, also in einer konstruierten Welt, kann hingegen lange Zeit alles ganz gut gehen, bis plötzlich die Riesenüberraschung da ist. Ökonomen bezeichnen dies als exogenen Vorfall und behaupten, es sei unmöglich, ihn zu untersuchen.

Woher kommen denn nun die Probleme kapitalistischer Systeme?
Der größte Fehler des Kapitalismus besteht darin, dass er die Leute zwingt, sich nach den Analysten (und den sie beratenden, betreuenden, belehrenden Paradigmatikern) zu richten. Wenn eine Bank sich geweigert hätte, mit Subprimes, mit minderwertigen Darlehen, zu handeln, hätte sie zumachen können. Analysten hätten sie heruntergestuft, weil sie weniger Profit als die Konkurrenz machte. Die Börse ermuntert die Leute, Risiken einzugehen, die von den Analysten nicht entdeckt werden. Ich habe immer gesagt, das Bankensystem stecke voller verdeckter Risiken, und immer wurde mir gesagt, ich liege falsch. Ben Bernanke, der Notenbankchef, bezeichnete das System als stabil. Jemand hat mir damals (2002, Anmerkung von uns) geheime Bilanzen vorgelegt […]. So enorm waren die Risiken, die in dieser Zeit eingegangen wurden. Auf meine Frage, wie da Katastrophen zu vermeiden wären, bekam ich die Antwort, solche Katastrophen habe es in der Vergangenheit nie gegeben. Wie kommt nun Redundanz in das kapitalistische Spiel? Der Kapitalismus ist auf Risiken aus. Er vermeidet Redundanzen, weil er sie als ineffizient erachtet. Was will ich damit sagen? Neunzig Prozent meines Geldes sind Bargeld. Kommt es zu einer Krise, kann mir das egal sein. Die Leute aber sagen mir: Es ist nicht effizient, so viel Bargeld zu haben. […] Der Kapitalismus zwingt uns zum Überoptimieren, die Biologie aber nicht. Nehmen Sie die Fortpflanzung. Menschen haben ihr Leben lang Geschlechtsverkehr und produzieren im Durchschnitt nur 2,2 Nachfahren. Das ist ineffizient, nicht wahr? Biologie und langlebige Systeme sind überaus redundant. Wenn der Kapitalismus überleben will, muss er folglich redundant sein. Was er nicht ist. „Was er nicht ist.“ Nicht immer. Nicht jeder Typ von Kapitalismus. Routine- und Arbitragekapitalismus beißen irgendwann ins Gras – wenn sie tieferen Formen (Innovation und Evolution) ausgesetzt sind – allerdings nicht ohne, in wildem Umsichschlagen, letzteren noch tiefe Wunden, nur keine tödlichen, beizufügen. Vielleicht rollen uns die Chinesen auf, wie die Westwelt, auf Terrorbekämpfung fixiert, mit Erschrecken, rechtzeitig zu Neujahr, zur Kenntnis nehmen muß[6] - wenn es ihnen gelingt, redundant zu bleiben. Abertausende von Mikrorebellionen, sprich: Redundanzstabilisierer, gehören zur Natur des chinesischen „Regimes“. Das Denken von Taleb ist nahe an der Schumpeterlogik. Und es korrespondiert mit dem Denken von Forschern, die sich mit der Langlebigkeit von Menschen, sogar ihrer potentiellen Unsterblichkeit beschäftigen (Aubrey de Grey, Robert Freitas, Ray Kurzweil, http://www.fight/aging). Was nur funktioniert, wenn sie ihre Redundanz erhalten. Ein permanent redundantes System stirbt nicht. Ein permanent redundantes Unternehmen auch nicht, außer der Staat reguliert und besteuert es zu Tode. Was aber nur heißt: dem Unternehmen seine Redundanz zu rauben. Was einigen Weisheitslehren aus dem Osten, denen wir „strictissime“, als Anarchieverachter, nicht zustimmen können, zu dem Schluß führt: Wenn jemand dich deiner Redundanz berauben will, darfst du rebellieren, Verfassung hin oder her. Was auch zeigt, daß diskursethische Deliberationen dieser Frage nicht weiterhelfen. Bis der Diskurs gelaufen ist, ist die Redundanz weg. Oder ein nicht-redundantes Diskursdiktat zwingt uns Redundanzarmut auf.

Wir leben doch in einer Wissensgesellschaft, wieso sind wir dann nicht in der Lage, mit unserem vielen Wissen die Probleme die wir haben, auch mit den Schwarzen Schwänen, Lissabon-strategisch oder sicherheitstechnologisch rational umzugehen? Wir alle haben keine Ahnung, wie mit Wissen umzugehen ist, und wir überschätzen uns dabei. Ich bin dennoch nicht fortschrittsfeindlich. Aber ich versuche, gegenüber Irrtümern, die aus Wissen entstehen, so robust zu sein wie nur irgend möglich. Das ist meine Richtlinie. Oder wie F.A. Hayek sagt: Es spricht vieles dafür, daß diejenigen, die einfach nach Glück [Gewinn, Macht] strebten, von jenen überwältigt sein müssen, die nur ihr Leben erhalten wollten. … Evolution kann nicht gerecht sein.[7]

[1]
„Redundanz“ (latein. redundare „im Überfluss vorhanden sein“) bezeichnet allgemein das mehrfache Vorhandensein funktions-, inhalts- oder wesensgleicher Objekte“ (Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Redundanz).
[2]
Mehr dazu in Haga & Röpke, 2007. „Redundanz, Altern, Innovation“.
[3]
Haga & Röpke, Redundanz, Altern, Innovation.
[4]
Harald Scheerer, Wie Sie durch Ihr Sprechen gewinnen, München: Langen-Müller/Herbig, S. 51
[5]
Banker weg, wir brauchen eine Revolution!, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.11.08, S. 33, auch unter: FAZ.
[6]
Brigitte Perucca, Recherche: la Chine en passe de combler son retard, Le Monde, 1. Januar 2009, S. 4.
[7]
F.A. von Hayek, Die verhängnissvolle Anmaßung, Tübingen 1996: Mohr-Siebeck, S. 72; 79.

2 Kommentare:

Unknown hat gesagt…

Vorab vielen Dank für die immer wieder sehr anregenden Blog Posts.

Ist der Bogen von der wirtschaftlicher Redundanz bzw. Effizienz über die kommunikationswissenschaftliche bis zuletzt zur biologischen (und das im Darwin-Jahr, wie frech) nicht ein wenig weit? Lassen sich solche Systeme ohne weitere Einschränkungen miteinander vergleichen? Nach meinem Bescheidenen Wissen bezieht sich die Allokation ja immer auf die Ressourcen, hier können vielleicht noch ökonomische und biolgische Parallelen gezogen werden, aber wo liegen diese in der Kommunikation?

Eine Sache ist mir beim ersten Lesen außerdem noch aufgefallen:
"Wer Leben will, in jedem System, muß Redundanz zulassen, erhalten, steigern. Redundanzreiche Systeme verschwenden, müssen vom Optimum Abschied nehmen, sogar ihre Homöostase (nach griechisch homoios für ähnlich, gleichartig und stasis für Zustand) überwinden, Homöodynamik kultivieren. Für Ökonomen wie Adam Smith und F.A. Hayek oder Philosophen wie David Hume war das selbstverständlich."
War es denn nicht grade Smith, der mit seiner Arbeitstteilung vorrangig Effizienz durch die Vermeidung von Redundanz publiziert hat?

Jochen Röpke hat gesagt…

Danke für die anregende Kommentierung.
Wenn man tief genug in Systeme hinabsteigt, lassen sich Systeme durchaus vergleichen. Dies ist auch die Logik der modernen Systemtheorie. Unsere Überlegungen sind angeregt von der Diskussion um Redundanz in den Biowissenschaften, insbesondere jenem Zweig, der sich mit Leben und Tod beschäftigt. Wir sehen viele Parallelen mit wirtschaftlichen Systemen. Biosysteme „verschwenden“ Ressourcen, ökonomische Systeme genauso. Folgt man James Lovelock („Gaia“), ist die Erde ein sich selbstorganisierendes System hoher Redundanz – welche die Menschen jedoch kontinuierlich aufbrauchen und als Wachstum verbuchen. Ob Redundanzerhalt Verschwendung (= Abweichen vom Optimum) ist, hängt am theoretischen Ansatz.
Der größte Pharmakonzern der Welt, Pfizer kauft sich einen Konkurrenten für 60 Mrd. Dollar (entspricht dem deutschen Konjunkturpaket II). Ziel: wenn wir zusammengehen, können wir viel Kosten sparen, Vertriebsleute entlassen, Forschung und Entwicklung koordinieren, auf Innovationsprozesse verzichten, die auf das gleiche zielen, usw. Business School-Logik: Redundanz abbauen. Konsequenz: die Innovationsdynamik leidet.
Wenn wir einen Roboter die Nachrichten der ARD/ZDF usw. sprechen lassen – manche Sprecher/innen kommen dem nahe – schalten viele Zuschauer/Hörer ab. Die Information kommt nicht rüber. Die Vielfalt der Kommunikation ist eingeschränkt. Die Zuschauer warten nur noch auf den Wetterbericht. Dies ist im Zitat angedeutet. Wer eine Vorlesung hält, und die Studenten mit Powerpoint bombardiert, bewirkt, mangels sprachlicher Redundanz , eine Aufmerksamkeitsreduktion der Studierenden. Powerpoint bedeutet in den meisten Fällen: der Vortragende liest noch einmal vor, was auf der Folie steht. Verschenkte Redundanz. Man hört nur zu, sieht sich alles nur an, weil man den Stoff in der Prüfung reproduzieren muß. Wäre dies nicht der Fall, wäre der Hörsaal leer, oder: Alles pennt, einsam spricht der Referent.
Smith und Hayek sind komplizierte Fälle. Sie lassen, im Vergleich zur Gleichgewichtsbetrachtung, eine höhere Redundanz im System zu. Der Markt ist außerhalb des Gleichgewichts. Er läuft jedoch zunehmend und „unsichtbar gehandelt“ in ein Gleichgewicht. Es kommt zu einem kontinuierlichen Redundanzabbau. Erst ein System, in dem Innovation immer wieder zu Innovation anregt, erhält seine Redundanz, wenn die Behörden nicht, Fall Pfizer, Redundanzarmut zulassen oder fördern.